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Josef H. Reichholf Der Tausendsassa

Allgemein

Josef H. Reichholf Der Tausendsassa
Er hat zu allem etwas zu sagen: Ökologie, Naturschutz, Evolution – und auch zu scheinbar abseitigen Themen wie der Entstehung des Wettkampfsports. Ist der Zoologe Josef Reichholf genial? Oder einfach ein Provokateur?

Der Mann ist allgegenwärtig. Im ZDF spricht er über Haustiere, in bild der wissenschaft kommentiert er das Artensterben, in Spektrum der Wissenschaft die Genom-Entschlüsselung, in Psychologie heute ein Buch über kindlichen Spracherwerb. Bücher schreibt er auch selbst gerne: Auf dem Markt sind ein halbes Dutzend Werke von Josef H. Reichholf, darunter sein neuestes: „ Warum wir siegen wollen. Der sportliche Ehrgeiz in der Evolution des Menschen“. Darin führt er den menschlichen Drang, Erster werden zu wollen, auf die Aasfresser-Sitten unserer frühen Vorfahren zurück. Vorträge? Aber sicher. Beim Landesbund für Vogelschutz in München spricht er über Krähenvögel, bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften streitet er mit Jägern über den richtigen Naturschutz – darin ist er Experte –, sitzt beim WWF (World Wide Fund for Nature) im deutschen Stiftungsrat. Vorlesungen hält er gleich an zwei Münchner Hochschulen: der Ludwig-Maximilians- und der Technischen Universität. Und nicht zu vergessen – Josef H. Reichholf, 57, hat noch einen Haupt- und Brotberuf: Als Hauptkonservator leitet er die Abteilung Wirbeltiere und darin speziell die Sektion Ornithologie (Vogelkunde) an der Zoologischen Staatssammlung München. Dort ist er – man glaubt es kaum – recht gut telefonisch zu erreichen und hat meistens Zeit. Manchmal sogar abends um halb zehn, wenn an irgendeinem bayerischen Stammtisch eine Wette die Runde macht über die Frage, ob „Raben Singvögel oder Raubzeug“ seien und der „ Herr Professor“ den Schiedsrichter spielen muss. Solche Volksaufklärung zu leisten, gehört zu den Aufgaben des Gefragten. Die Schätze der Staatssammlung zeigt der Zoologe gerne vor: etwa die Schmetterlingskollektion, über die sein Kollege Dr. Axel Hausmann wacht. Mit rund 11 Millionen aufgespießten Exemplaren ist sie die größte der Welt. Fein in Schubladen sortiert, sind auch die 62000 Vogelbälge Reichholfs Reich. Ein paar ausgestopfte Seidenschwänze hat er ausgewählt, um eine Besonderheit an ihnen zu demonstrieren: Die europäisch-nordasiatische Art hat kleine Plättchen auf den Flügeln, zwei, drei Millimeter lang. Sie sehen wie winzige rot lackierte Fingernägel aus. Der japanischen Art fehlen diese Plättchen, und die nordamerikanische Verwandtschaft hat sie nur gelegentlich. „Wofür sind diese Plättchen gut?“ fragt sich Josef Reichholf, und die Frage lässt ihm keine Ruhe. „Ein Geschlechtsmerkmal sind sie nicht. Denn sie kommen bei Männchen wie Weibchen vor und spielen in der Balz überhaupt keine Rolle.“ Könnten es Stabilisatoren sein, die den relativ schweren Vogel – seine zwei Verwandten sind leichter – beim Steilflug vor dem Absturz bewahren? Das würde der Zoologe jetzt gerne experimentell prüfen und sucht deshalb nach einem geeigneten Windkanal. Vielleicht bei einem Flugzeugbauer? Wissenschaftliche Neugier geht manchmal ungewöhnliche Wege. „Ich kann hier fast hundert Prozent meiner Zeit frei forschen“, preist Josef Reichholf seinen Arbeitgeber, den Bayerischen Staat. „An einer Universität wäre ich durch Lehrverpflichtungen viel mehr eingeschränkt.“ Dafür, dass man ihm Freiheiten lässt, nimmt er gern ein paar Nachteile seines Beamtenalltags in Kauf: feste Dienstzeiten. Routine-Anfragen, etwa von Gerichten („Wie alt ist dieser ausgestopfte Vogel?“, „Ist das eine geschützte Art?“). Und dass er auf Auslandsreisen nicht versichert ist. Ein ruhiger Job, so scheint es. Ein Job, in dem sportlicher Ehrgeiz in wissenschaftlicher Hinsicht nicht verlangt wird. Ein anderer an seiner Stelle würde sich vielleicht aus purer Langeweile zum Fachmann für Gespinstmotten oder die Evolution der Vogelfeder qualifizieren. Für Josef H. Reichholf sind das nur zwei Themen in seinem sich ständig erweiternden Interessenspektrum, das beispielsweise auch die Ökologie von Auwäldern und Stauseen, den tropischen Regenwald, die Wiederansiedlung der Biber, die Evolution des Menschen wie des Zebras sowie die ökologischen Grundlagen des Naturschutzes umfasst. Wie kann ein Mensch so viel wissen wollen? Und wie kann er so viel behalten? Darüber haben sich seine Mitmenschen schon früh gewundert. Ortrun Preuß zum Beispiel, die mit Josef Reichholf in den sechziger Jahren in München Biologie studierte und gemeinsam mit ihm auf Exkursionen ging. Ihr fiel auf, wie akribisch der Kommilitone seine Beobachtungen notierte, wie diszipliniert er seine Zeit einteilte und wie aufgeräumt sein Schreibtisch war. „Und dazu hatte er ein hervorragendes Gedächtnis“, sagt sie neidvoll. „Noch Jahre danach erinnerte er sich an Details aus Vorlesungen, die ich längst vergessen hatte.“ Ein anderer Bewunderer ist sein früherer Chef, Prof. Ernst-Josef Fittkau. Von 1976 bis 1992 leitete der Gewässer- und Tropenwald-Experte die Zoologische Staatssammlung, an der der junge Reichholf damals schon wirkte. „Mit seiner brillanten Intelligenz und seinem breiten Fachwissen war er mir ein wichtiger Gesprächspartner“, erinnert sich Fittkau. „Ich hätte ungern auf ihn verzichtet. Darum habe ich ihm Freiräume geschaffen. Ich habe meine schützende Hand über ihn gehalten, damit er sich nicht verschwendet. Denn so ein genialer Kopf ist natürlich viel zu schade für das Hüten von Vogelbälgen.“ Freilich habe es Neider gegeben. Allgemein beliebt sei der überaus Tüchtige nicht gewesen. Er verschwende eben auch „nicht viel Zeit auf Geschwätz“. Josef Helmut Reichholf stammt aus kleinen Verhältnissen. Geboren wurde er im April 1945 in dem Dörfchen Aigen am Inn. Der Vater war vor der Geburt des einzigen Sohnes in Polen gefallen. Mutter und Großmutter zogen den Jungen auf. Sie müssen viele Ängste um ihn ausgestanden haben, denn der Bengel stromerte schon als Siebenjähriger in den Auen des Inn herum, die Vogelwelt fest im Blick, und am liebsten allein. Später schockierte er den Dorfpfarrer, der aus dem klugen Buben gern einen Priester geformt hätte, mit Experimenten, bei denen ein Frosch zu Tode kam, dessen Herz jedoch stundenlang in einer Nährlösung weiterschlug. „Es war eine Zeit, in der man draußen in der Natur noch alles anfassen durfte, in der es noch nicht so viele Verbote gab“, erzählt der Ökologe ein wenig wehmütig in seinem Vortrag „Schwarze Gesellen – Mythen, Meinungen und Fakten zu den Rabenvögeln“ beim Landesbund für Vogelschutz im Bürgerhaus von Gräfelfing. „Meinen ersten Rabenvogel habe ich mir mit elf Jahren vom Kirchturm des Heimatortes heruntergeholt. Es war eine Dohle, sie hieß Hansi. Wenn man sie beim Namen rief, antwortete sie ‚Hansi da‘ „. „Höchst staunenswert“ verhielt sich Rabenkrähe Tommy, ein späterer Gefährte. Nachdem ein Nachbar den Vogel geärgert hatte, indem er vor seinen Augen Wurstscheiben abschnitt und aufaß, ohne eine abzugeben, stahl ihm Tommy blitzschnell das zur Seite gelegte Taschenmesser. „Dann flog er auf und deponierte das Messer auf dem Dach des Nachbarhauses.“ Es sind solche Anekdoten, mit denen Reichholf sein Publikum entzückt und für die es ihm auch Durststrecken verzeiht, in denen es statt farbenfroher Dias trockene Tabellen zu sehen bekommt. Dabei plädiert Reichholf für „mehr Emotionalität“ im Naturschutz: „ Jugendliche müssen wieder Raben und Krähen aufziehen! Dann kommt die Liebe zu diesen intelligenten Tieren von ganz alleine.“ Josef Reichholf, der Dorfjunge, wollte jedenfalls nicht im Kirchturmschatten bleiben. Er hatte das Buch „Die Welt, in der wir leben“ und zahlreiche Hefte der Naturzeitschrift „kosmos“ gelesen. Und er wollte – um Himmels willen – nicht Priester werden, sondern Biologie studieren und in die Welt hinaus. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes half ihm dabei. Diese anspruchsvolle Institution, die nur Hochbegabte fördert, gab ihm ein Stipendium. „Damit konnte ich mir alle Bücher kaufen, die ich wollte.“ Das Studium verlief glatt und effektiv, obwohl Reichholf es nicht lassen konnte, neben der Biologie auch noch Chemie, Geografie und Tropenmedizin zu belegen. Und weil er mit 24 schon seinen Doktor für eine Arbeit über Wasserschmetterlinge hatte, beschloss die Studienstiftung, den jungen Mann im Ausland weiter zu finanzieren: Als Forschungsstipendiat ging er 1970 für ein Jahr nach Brasilien. Für ihn war es das Paradies. Nicht so sehr der Anblick des tropischen Regenwaldes – der präsentierte sich dem erwartungsfrohen Biologen geradezu in „grüner Einförmigkeit, enttäuschend im Hinblick auf die pflanzliche Vielfalt“. Und auch die Artenfülle der Fauna war erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Was ihn überraschte, waren die Menschen, die „je weiter man ins Landesinnere kam, umso freundlicher wurden“. Schon auf der Schiffsüberfahrt hatte sich der 25-Jährige einer Gruppe bayerischer Missionare angeschlossen, die ihn einluden, sie in „ ihrem“ Indianerdorf im Mato Grosso zu besuchen. Das tat Reichholf natürlich – und fühlte sich unter den Eingeborenen wohl. „Einmal fuhren die Padres mit ihrem Kleinlaster flussaufwärts zu einem anderen Indianerstamm“, erzählt er. „Ich saß mit einer ganzen Gruppe Indianer hinten auf der Ladefläche. Plötzlich lag ein großes Reptil auf der Straße, das ich noch nie gesehen hatte, ein Teju. ‚Esta morto‘, es ist tot, sagten die Indios. Ich aber sah durch das kleine Teleobjektiv, durch das ich das Tier fotografierte, dass es die Nickhaut des Auges ein wenig hochzog. ‚ Esta vivendo‘, es lebt, sagte ich. Die Indianer glaubten mir nicht. Doch beim nächsten Klick des Fotoapparats sprang der Teju davon. Von nun an waren die Indianer derart überzeugt von meinen Fähigkeiten, dass sie mir alle ‚bixos‘, also Viecher, zeigten, die sie kannten.“ Die Tropen, vor allem die Südamerikas, ließen Reichholf nicht los. 1992 profitierten bild-der-wissenschaft-Leser davon – bei einer Studienreise auf die Galapagos-Inseln. „Er konnte immer und überall Geschichten erzählen, auf Deutsch und auf Englisch“, erinnert sich Reisebegleiter Jürgen Nakott. „Selbst die einheimischen Fremdenführer waren beeindruckt, was dieser deutsche Professor alles wusste.“ Und auf den weiblichen Teil der Reisegruppe soll er – braun gebrannt und in sportlichem Khaki-Outfit – besonders attraktiv gewirkt haben. Auch andere Paradiese lockten. Im Jahr 1978 bereiste Reichholf zusammen mit einer Ornithologen-Gruppe Südäthiopien, Kenia und Tansania. Als er die Oldoway-Schlucht erblickte, in der viele Überreste menschlicher Vorfahren gefunden wurden, seien ihm drei Fragen durch den Kopf gegangen, erinnert sich Reichholf: „Warum ist hier der Mensch entstanden? Warum hat er gerade hier außer Fossilien kaum Spuren hinterlassen? Und: Warum leben hier so viele Großtiere?“ Er beantwortete sie alle in seinem Buch „Das Rätsel der Menschwerdung“, einer spannend geschriebenen Geschichte der frühen Menschheit. Entsetzt war er dagegen über die vielen Spuren von Menschen und vor allem ihrer Haustiere, Rinder und Schafe, die der reiselustige Bayer 1991 vorfand, als er mit dem damaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer Südostasien, Australien und Neuseeland inspizierte. Gemeinsam bereitete man den Umweltgipfel von Rio vor. Damals sei ihm klar geworden, sagt Reichholf, dass es tatsächlich „ungeheure Mengen“ Methan sein müssen, „die aus Milliarden Rindermägen“ weltweit in die Atmosphäre gelangen und dort den Treibhauseffekt ankurbeln. Seitdem zieht der Ökologe bei jeder Gelegenheit gegen die Massentierhaltung zu Felde, derentwegen „ja großflächig tropische Regenwälder und Savannen abgeholzt und abgebrannt werden, um Wuchsflächen für Futtermittel zu schaffen“. Ja, er sei schon streitbar, provoziere gern und „formuliert auch überspitzt, um Gedanken anzuregen“, sagt WWF-Präsident Carl-Albrecht von Treuenfels über den Verbandskollegen, den er ansonsten mag und schätzt, „auch für seinen Humor“. Aber unter den manchmal recht konservativen Naturschützern sei der Reichholf eben ein „ unkonventioneller Querdenker, der vieles in Bewegung bringt“. So etwa, wenn er es „geradezu rassistisch“ findet, dass übereifrige Naturschützer eingewanderte Tier- und Pflanzenarten „ausmerzen“ wollen, um einen früheren Zustand wieder herzustellen. Oder wenn er den Jägern vorrechnet, dass sie mit dem „Abknallen von Rabenvögeln“ keinen einzigen kleinen Singvogel retten. Manchmal muss er auch einstecken. Kritische Leser seiner Bücher finden, er spekuliere zu viel, lehne sich mit seinen Theorien zu weit aus dem Fenster. Ein Fußballfan schrieb gar im Internet, der Autor des Buchs „Warum wir siegen wollen“ habe wohl „ein paar Schraubstollen locker“. Nun, vielleicht sollte man sich die Adresse seines Instituts „Münchhausenstraße“ eine Warnung sein lassen und dem charmanten Welterklärer und rastlosen Vielschreiber nicht alles auf Anhieb glauben. Skepsis verträgt er nämlich: Reichholf ist für Kritik und andere Anschauungen offen und korrigiert sich schon mal im Nachhinein. Und wenn man ihm eine Weile zugehört hat und mit ihm vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen ist, kann man sowieso nicht anders urteilen als sein früherer Chef: „Er ist halt genial!“

Kompakt

Josef Helmut Reichholf, 1945 in Aigen am Inn geboren, Naturfreund von Kindesbeinen an, Biologiestudium mit Promotion in München, 1970 Forschungsjahr in Brasilien, seitdem Vielreisender, seit 1974 Ornithologe an der Zoologischen Staatssammlung München, seit 1985 Professor, schrieb bis heute über 20 Bücher und an die 800 Artikel über verschiedenste Bio- und Öko-Themen, sagt auf die Frage, warum er so vielseitig ist: „Weil mich das alles interessiert.“

Judith Rauch

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