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Schwarze Atome

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Schwarze Atome
Zwei australische Forscher behaupten: Mini-Löcher sind in uns allen. Wenn beim Urknall winzige Schwarze Löcher gebildet wurden, könnten diese heute als elektrisch geladene Atomkerne unter uns weilen. Für Physiker wären ihre bizarren Eigenschaften wertvoller als Gold.

Nicht alle Schwarzen Löcher sind ferne Monster im Kosmos. Bekanntlich treiben sie ihr Unwesen auch in den Kassen des Staates, der Parteien und im Erinnerungsvermögen der Politiker. Wenn zwei australische Physiker recht haben, braucht man dies nicht einmal metaphorisch zu verstehen: Schwarze Löcher könnten buchstäblich in unseren Gehirnen und Geldbörsen herumspuken. Es klingt hochspekulativ, aber Victor Flambaum und Julian Berengut von der University of New South Wales in Sydney haben über solche bizarren Möglichkeiten ganz ernsthaft nachgedacht – in einem Artikel, der soeben in der renommierten Fachzeitschrift Physical Review D erschienen ist. Winzige Schwarze Löcher, so spekulieren die beiden Physiker, könnten sich im Inneren von Atomen verbergen und ein Teil der ominösen Dunklen Materie sein, die die Milchstraße zusammenhält. Sie könnten Kernreaktionen im Inneren von Sternen beschleunigen und uns vielleicht sogar Auskunft geben über das, was in den ersten Sekundenbruchteilen des Urknalls geschah. Denn möglicherweise sind solche submikroskopischen Gespenster damals in Hülle und Fülle entstanden. Die Idee ist nicht neu. Stephen Hawking von der University of Cambridge in England hat darüber schon 1971 nachgedacht. 1974 sorgte er für Aufregung, als er zeigte, daß Schwarze Löcher nicht wirklich schwarz sind – jedenfalls nicht auf lange Sicht. Quantenmechanische Effekte an ihrem Ereignishorizont, der Grenze ohne Wiederkehr, führen nämlich dazu, daß ein Schwarzes Loch Photonen und Neutrinos abstrahlt – und zwar um so mehr und um so heftiger, je kleiner das Schwarze Loch ist. Schließlich explodiert es in einem Schauer aus hochenergetischer Strahlung. Urzeitliche Schwarze Mini-Löcher, die mit dem Urknall entstanden sind, müßten sich deshalb längst zu Hawking-Strahlung aufgelöst haben. Flambaum und Berengut zufolge könnte dieser Auflösungsprozeß aber gestoppt werden – jedenfalls vorübergehend. Jacob D. Bekenstein von der Hebräischen Universität in Jerusalem hat nämlich 1995 entdeckt, daß der Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs quantisiert ist: Er kann nur bestimmte physikalische Werte einnehmen. Die Zerstrahlung eines Schwarzen Lochs muß daher gleichsam schrittweise erfolgen. Wenn nur noch wenige Quantensprünge übrig sind, bricht Hawkings Berechnung zusammen, weil die zugrundeliegende Theorie an die Grenzen ihrer Gültigkeit stößt. Bis jetzt weiß niemand, was dann geschieht. Dazu wäre eine Theorie der Quantengravitation nötig, die alle Naturkräfte einheitlich beschreibt und die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenphysik auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Es ist deshalb durchaus möglich, daß die Verdampfung kleinster Schwarzer Löcher kurz vor der Auflösung aufhört oder jedenfalls für Jahrmilliarden zum Erliegen kommt. Dann aber müßte das Universum von den winzigen Finsterlingen nur so wimmeln. Sie wögen lediglich 0,00001 Gramm und hätten den kleinsten Radius, den die Physik erlaubt – 10-35 Meter, die sogenannte Planck-Länge. Sie könnten sich überall aufhalten: in Sternen, Steinen, Physiklabors und sogar in unserem Gehirn. Aufgrund ihrer geringen Masse und der Tatsache, daß die Schwerkraft mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt – also bei doppelter Entfernung nur noch ein Viertel so stark wirkt –, würden die Mini-Löcher keinesfalls alles um sich herum verschlingen. Das eröffnet neue Perspektiven für die Teilchenphysik. „Das Thema erschien mir sehr vielversprechend“, sagt Flambaum, bei dem Berengut promoviert hat. „Außerdem ist es ein exzellentes Forschungsprojekt für Studenten. Allerdings war es komplizierter, als ich erwartet habe.“ „Elektrisch neutrale Schwarze Löcher würden durch den Boden des Labors bis zum Erdmittelpunkt fallen, aber geladene Mini-Löcher könnten eingefangen werden“, schreiben Flambaum und Berengut. Das würde es erlauben, mit den finsteren Winzlingen im Labor zu experimentieren. Solche mit positiver Ladung wären einem Atomkern vergleichbar und würden im Lauf der Zeit Elektronen um sich scharen. Rein theoretisch könnten das Tausende sein. Aber der Physik- Nobelpreisträger Paul Dirac hat schon vor langem berechnet, daß es bei einem Atom mit mehr als 137 Elektronen keine stabilen Elektronenbahnen mehr gibt – die überzähligen stürzen sofort in den Kern, hier also ins Schwarze Mini-Loch. Flambaum zufolge sind die Verhältnisse bei Schwarzen Mini-Löchern noch restriktiver: Weil Elektronen keine kleinen Kügelchen sind, sondern verschmierte Wellen aus Ladung, besteht immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß sich ein Teil der Ladungswolken innerhalb des Ereignishorizonts aufhält. Deshalb werden die innersten Elektronen im Lauf der Zeit verschluckt. Die heutigen Schwarzen Mini- Löcher haben maximal 70 Elektronen – das entspricht dem chemischen Element Ytterbium. Wie könnten Experimentalphysiker ein solches schwarzes Element erkennen, wenn es ihnen in die Finger beziehungsweise Apparaturen käme? Bei gewöhnlichen Atomen wackelt der Kern im Raum geringfügig. Das ist der Gravitationseinfluß der Elektronen, die ihn umkreisen. Dadurch wird die Wellenlänge des Lichts, das angeregte Atome ausstrahlen, um einen kleinen Betrag verschoben. Doch die Masse eines Schwarzen Mini-Lochs ist gegenüber der eines Elektrons fast unendlich groß. Deshalb würde es von der Elektronenmasse praktisch nicht gestört. „Es gibt also keine Verschiebung der Wellenlängen wie bei gewöhnlichen Atomen“, erklärt Flambaum. „ Dieser Unterschied kann mit heutigen Meßgeräten leicht nachgewiesen werden.“ Daß dies noch nicht geschah, mag einfach daran liegen, daß noch niemand danach gesucht oder überhaupt an diese Möglichkeit gedacht hat. Es sind noch größere Effekte zu erwarten: Wenn ein Schwarzes Mini-Loch ein Elektron verschluckt, ändert das Loch seine Ladung. Da seine Masse von dieser abhängt, würde eine Menge Strahlung freigesetzt werden, die leicht zu beobachten wäre.

Doch wie wahrscheinlich ist es, daß neugierige Physiker Schwarze Mini-Löcher zu fassen bekommen? „Im besten Fall können wir hoffen, daß ein Schwarzes Atom auf 1027 Wasserstoff-Atome kommt. Das macht die Mini-Löcher 30mal seltener als Uran-Atome“, schätzt Flambaum. Dies setzt freilich voraus, daß die gesamte Dunkle Materie im Universum aus Schwarzen Mini-Löchern besteht. Da das sehr unwahrscheinlich ist, sind sie noch seltener. Immerhin könnten sich die Mini-Löcher im Spektrum des Sonnenlichts abzeichnen. Die Schwierigkeit besteht freilich darin, den Effekt unter den unzähligen Emissionen gewöhnlicher Atome aufzuspüren. Flambaum und Berengut haben noch kühnere Überlegungen auf Lager: Schwarze Mini-Löcher könnten auch negativ geladen sein. „Dann würden sie nicht Elektronen, sondern Protonen oder sogar ganze Atomkerne einfangen“, sagen die beiden Physiker. Solche „protonischen Schwarzloch-Atome“ wären 2000mal kleiner als normale Atome – so klein, daß die kurzreichweitigen Kernkräfte ins Spiel kommen. Zwei Protonen, die um ein Mini-Loch kreisen, könnten zu Deuterium-Kernen (schwerer Wasserstoff) verschmelzen. Dies ist der erste Schritt bei der Erzeugung des Sonnenlichts. Bis sich im Zentrum unserer Sonne zwei Protonen aber so nahe kommen, daß sie fusionieren, vergehen im Durchschnitt zehn Milliarden Jahre. Im Orbit um ein Schwarzes Mini-Loch würde sich der Prozeß jedoch enorm beschleunigen. Weitere Kernreaktionen könnten folgen. „Es müssen Atomkerne entstehen, die viel mehr Protonen besitzen als gewöhnliche Kerne, weil sie von der Schwerkraft des Mini-Lochs zusammengehalten werden, nicht von Neutronen“, sagt Flambaum. Auf diese Weise könnten Schwarze Mini-Löcher in Sternen die Synthese neuer Elemente gewaltig beschleunigen. Noch bizarrer wird es, wenn man bedenkt, daß ein Proton riesig ist im Vergleich zu einem Schwarzen Mini-Loch. Aus der Perspektive des Mini-Lochs ist ein Proton kein kompakter Körper, sondern eine Ansammlung aus drei Quarks. „Eines der Quarks kann in die Fänge des Schwarzen Lochs geraten“, sagt Flambaum. Das Loch würde dann eine Eigenschaft besitzen, die nach bisheriger Auffassung nur Quarks zukommt: Es hätte eine sogenannte Farbladung. Letztlich wäre es somit ein superschweres Quark. Und von außen betrachtet würde das ganze System – bestehend aus zwei Quarks und einem Schwarzen Quarkloch – als superschweres Proton erscheinen. Experimente mit solchen Teilchen, deren Halbwertszeit in der Größenordnung von zehn Millionen Jahren liegen dürfte, wären für Physiker wertvoller als Gold. Dann könnten sie nämlich ihre Theorien testen, die beschreiben, wie Quarks miteinander wechselwirken. Auch Kosmologen bekommen leuchtende Augen bei der Vorstellung, daß Schwarze Mini-Löcher in experimentelle Reichweite rücken. Ein Fenster zur Urzeit des Universums wäre aufgestoßen. Bernard Carr vom Queen Mary and Westfield College in London zufolge könnten uns die Mini-Löcher verraten, wie homogen die Urmaterie verteilt war. Vielleicht bergen sie sogar eine Art Erinnerung an eine Zeit in sich, als die fundamentalen Naturkonstanten andere Werte besaßen als heute – eine Möglichkeit, die sich nicht ausschließen läßt. In manchen kosmologischen Modellen variiert zum Beispiel die Stärke der Schwerkraft im frühen Universum. Schwarze Löcher, die als Relikte jener Zeit übriggeblieben sind, könnten diese Variationen gleichsam in der Größe ihrer Masse widerspiegeln. Aber wenn die Suche nach den urzeitlichen Finsterlingen auch viele Rätsel lösen könnte – Licht in die dunklen Machenschaften um schwarze Kassen wird sie nicht bringen.

Rüdiger Vaas

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