Singularitäten sind mathematische Ausnahmesituationen, in denen die Gleichungen verrückt spielen. Verschiedene Arten von Singularitäten lassen sich unterscheiden, doch nicht alle sind so alarmierend wie die mutmaßliche Anfangssingularität des Urknalls.
• Mathematische Singularitäten kommen in vielen Funktionen vor. Ein Beispiel ist die Funktion f(x) = 1/x, wenn man für x die 0 einsetzt.
• Numerische Singularitäten wirken sich in vielen Bereichen der Wissenschaft hinderlich aus, etwa in der Hydrodynamik. Sie kommen allein auf Grund der begrenzten Rechengenauigkeit zustande. So ist beispielsweise (1 + 10–12) – 1 = 0, wenn man auf elf Stellen genau rechnet. Eine Division durch einen solchen Ausdruck hätte fatale Folgen für die gesamte Rechnung, denn durch 0 kann man nicht teilen. Eine geschickte Umformulierung bekommt eine solche numerische Singularität jedoch in den Griff: (1 – 1) + 10–12 ergibt auch bei elf Stellen Rechengenauigkeit noch 10–1 2.
• Koordinaten-Singularitäten sind bloß das Resultat eines bestimmten Beschreibungssystems. So hat das übliche Koordinatensystem der Erde je eine Singularität am Nord- und Südpol, weil sich die Meridiane dort überschneiden. Nun ist es an den Polen zwar bitterkalt – aber die physikalischen Gesetze spielen nicht verrückt. Freilich lassen sich Koordinatensingularitäten nicht einfach durch Rechentricks beseitigen. „Es hilft nur die Suche nach einem besseren Koordinatensystem. Hierfür gibt es noch kein geeignetes Standardverfahren“, sagt Werner Berger, der am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Golm bei Potsdam die Kollision Schwarzer Löcher im Computer simuliert – eine knifflige Angelegenheit, weil die Metrik an ihrem Ereignishorizont (dem „Rand“ des Schwarzen Lochs) in der Schwarzschild-Lösung singulär wird. Vereinfacht gesagt bedeutet dies: Radiale Abstände zur imaginären „Oberfläche“ eines Schwarzen Lochs sind unendlich groß, obwohl sich paradoxerweise Umfang und Oberfläche selbst durchaus berechnen lassen. Koordinatensingularitäten sind ebenfalls Artefakte ohne physikalische Realität und können also im Prinzip vermieden werden. „Die Wahl eines guten Koordinatensystems gehört zu den Geheimrezepten einer physikalisch vertrauenswürdigen Simulation“, so Berger.
• „Aber auch das beste Koordinatensystem nützt nichts, wenn man auf den heikelsten Punkt einer Raumzeit trifft: die physikalische Singularität“, fährt Berger fort. „Keine andere Theorie oder Methodik kann hier Ratschläge erteilen. Dieser Punkt ist per definitionem nicht berechenbar. Und hier hilft nur eines: diesen Punkt rechentechnisch mit allen Mitteln zu vermeiden.“ Bei der Simulation von kollidierenden Schwarzen Löchern gelingt dies, indem man die Singularität einfach „ausschneidet“ – zumal die Verhältnisse im Inneren Schwarzer Löcher, jenseits des Ereignishorizonts, von außen ohnehin nicht einsehbar sind. Die Urknall-Singularität lässt sich so freilich nicht umgehen, denn aus ihr kam ja unser gesamtes Universum hervor. Die entscheidende Frage lautet also, ob eine solche physikalische Singularität real ist – gleichsam ein Stoppschild für unsere Erkenntnis und das Ende aller Erklärungen –, oder ob auch sie nur als Artefakt einer unzureichenden Theorie auftritt und mit einer besseren überwunden werden kann. RV