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„Tausende unnötiger Todesfälle“

Allgemein

„Tausende unnötiger Todesfälle”
Weil etwa 50 Menschen nach Verabreichung des Blutfettsenkers Lipobay gestorben sind, stehen Arzneimittel und Hersteller am Pranger – von einem „Skandal” ist immer wieder die Rede. Doch der wahre Skandal liegt woanders.

bild der wissenschaft: Der Fall Lipobay hat das Thema Arzneimittelsicherheit hochkochen lassen. Wie häufig sind schwere Fälle von Arzneimittel-Nebenwirkungen?

FRÖLICH: Dazu verweise ich auf zwei Untersuchungen. Die eine ist an Bremer Krankenhäusern gemacht worden, und der Autor – Prof. Peter Schönhöfer – kommt darin auf 16000 Todesfälle pro Jahr in Deutschland. Die zweite, deutlich umfangreichere Untersuchung stammt aus den USA und lässt auf rund 25000 Tote durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen an deutschen Kliniken schließen. Diese Zahlen gelten für alle Altersgruppen.

SICKMÜLLER: Diesen Schätzungen liegen zum Teil bezweifelte Annahmen zu Grunde, die auch noch von Studie zu Studie variieren. Man findet dementsprechend fast beliebige Zahlen zwischen 8000 und 25000 Todesfällen.

FRÖLICH: Ich klebe nicht an einer konkreten Ziffer – allein die Größenordnung erschreckt mich. Wir reden übrigens nicht nur von Verstorbenen. Nach den mir vorliegenden Studien verursachen Arzneimittelnebenwirkungen sage und schreibe zehn Prozent der Krankenhaus-Liegezeiten hier zu Lande. Da entsteht großes Leid – außerdem wohl erhebliche Kosten.

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SICKMÜLLER: In der letzten Zeit hat Deutschland jährlich etwa 500 Milliarden Mark für sein Gesundheitswesen ausgegeben. Davon entfielen auf Krankenhaus-Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen etwa 87 Milliarden Mark. Wenn Ihre zehn Prozent stimmen – es gibt dazu auch niedrigere Schätzungen –, wären also 8,7 Milliarden Mark auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen.

bdw: „Keine Wirkung ohne Nebenwirkung”, heißt es. Sind diese Toten der Preis für die Heilung vieler Millionen Patienten?

FRÖLICH: Nur etwa zur Hälfte – da mag man von „Schicksal” sprechen. Aber die andere Hälfte dieser mindestens 25000 müsste noch nicht sterben. Der Hauptgrund dafür: Ein erheblicher Teil der Ärzte kann nicht richtig dosieren. Sie wissen nicht, wie viel Wirkstoff sie einem individuellen Patienten verschreiben dürfen und wie viel ihn womöglich umbringen wird.

bdw: Ein harter Vorwurf. Können Sie den belegen?

FRÖLICH: Es gibt dazu Daten. Mein Institut hat soeben eine Untersuchung an 168 Ärzten in deutschen Krankenhäusern abgeschlossen, die Arbeit wird in Kürze veröffentlicht. Diese Ärzte arbeiten im Mittel seit drei Jahren an ihren Kliniken, waren also keine Neulinge. Wir fragten sie nach den richtigen Dosierungen der 17 meist eingesetzten Medikamente – bei einem geradezu irreal einfachen Kranken: ungestörte Leber- und Nierenfunktion, Normalgewicht, mittleres Alter, keine Begleiterkrankungen. Das Ergebnis: 46 Prozent der befragten Ärzte machten korrekte Angaben zur Dosierung. 15 Prozent der Angaben hätten deutliche Unterdosierungen bedeutet, so dass kein Behandlungserfolg zu erwarten gewesen wäre. Und 7 Prozent der Antworten waren Überdosierungen – und zwar heftige. Angesichts dieses Kenntnisstandes ist es doch kein Wunder, wenn wir an deutschen Kliniken Tausende von unnötigen Todesfällen fabrizieren. Zumal der reale Patient ganz anders aussieht als der, den wir den 168 Befragten vorgegeben hatten .

bdw: Unter den Toten durch Lipobay waren viele ältere Menschen. Sind das typische Patienten?

FRÖLICH: Der typische Patient in Praxis und Krankenhaus ist der Mensch in höherem Alter. Das Durchschnittsalter der Patienten in den allgemeinmedizinischen Abteilungen deutscher Kliniken liegt heute bei über 70 Jahren. Und keine Patientengruppe wächst derzeit so rasch wie die der Über-80-Jährigen.

bdw: Werden alte Menschen leichter zu Opfern von Arzneimittelnebenwirkungen?

FRÖLICH: Mit zunehmendem Alter werden die Organfunktionen, zum Beispiel von Niere und Leber, häufig schlechter. Hinzu kommen Wechselwirkungen – je älter der Kranke, desto mehr Medikamente nimmt er. Bei den 80-Jährigen leidet jeder vierte Patient unter unerwünschten Arzneimittelwirkungen.

bdw: Werden die Prüfverfahren den Senioren gerecht?

SICKMÜLLER: Bei den Klinischen Prüfungen für Arzneimittel werden immer mehr ältere Menschen in die Studien einbezogen. Die Firmen wissen: 50 Prozent vom Arzneimittel-Gesamtumsatz der gesetzlichen Krankenkassen entfallen auf Über-60-Jährige, obwohl die nur 24 Prozent der Mitglieder stellen.

bdw: Sehen Sie ärztliche Fehler als Hauptproblem?

SICKMÜLLER: Nach meinen Informationen wären zwischen 30 und 50 Prozent aller Zwischenfälle durch Arzneimittel-Nebenwirkungen an Krankenhäusern vermeidbar. Da sollte einiges verbessert werden – im Interesse der Patienten, aber auch der Pharmahersteller: Wenn ein Medikament auf Grund von Verordnungsfehlern in Misskredit gerät oder gar vom Markt genommen werden muss, ist der Schaden immens. Die Entwicklungskosten für ein Arzneimittel liegen in einer Größenordnung von rund einer halben Milliarde Mark.

bdw: Informieren die Firmen offen und umfassend genug?

SICKMÜLLER: Aber ja. Siehe Lipobay: Dass als unerwünschte Wirkung beim Wirkstoff Cerivastatin das Muskelgewebe abgebaut werden kann, war bereits bei der Zulassung bekannt. Unternehmen und Zulassungsbehörde diskutierten ausführlich darüber, und als Ergebnis wurden die Warnhinweise verschärft. Es stand alles in der Fachinformation – nur: die hat kaum einen interessiert.

bdw: Was ist die „Fachinformation”?

SICKMÜLLER: Das ist ein essentieller Teil der Zulassungsentscheidung, in der alles Wichtige festgehalten ist, Positives wie Negatives, meist mehr vom Letzteren – detailliert, ausführlich, unabhängig von den Interessen der Hersteller. Die Fachinformation wird von der zuständigen Behörde zugelassen. Jeder Arzt kann diese eingehende Bestandsaufnahme des Wissensstandes über ein Medikament anfordern, bevor er es zum ersten Mal einem Patienten verschreibt – er kann dazu sogar einen kostenlosen Service unseres Verbandes nutzen.

FRÖLICH: Vielleicht ist das Verfahren zu umständlich. Warum stellen Sie die Fachinformationen nicht ins Internet?

SICKMÜLLER: Das täten wir gerne, lieber heute als morgen. Aber wir dürfen nicht.

bdw: Wer hindert Sie daran?

SICKMÜLLER: Unser Gesetzgeber. Wenn nämlich diese Informationen im Internet direkt zugänglich wären, könnten auch alle Patienten sie lesen. Das aber würde als Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz (HWG) bewertet – obwohl überhaupt nichts Werbliches in der Fachinformation steht. Das führt zu einer abenteuerlichen Situation. Denn wer genügend Englisch beherrscht, ob Arzt, Patient oder Apotheker, kann unter www.emc.vhn.net die Fachinformationen zu sämtlichen Medikamenten ansehen – die Briten haben sie nämlich ins Internet gestellt. Somit hat jeder, der Englisch kann, einen Informationsvorteil in punkto Arzneimittelsicherheit.

FRÖLICH: Wir haben ein Informationsdefizit auf breiter Front. Nicht nur der Arzt, sondern auch der Bürger sollte den Zugang zu unabhängigen Informationsquellen über Medikamente haben. Warum sollen nicht beispielsweise die Ergebnisse von neuen Arzneimittelstudien sofort ins Internet kommen, zu jedermanns Kenntnis?

SICKMÜLLER: Das sehe ich anders. Es gibt einen harten Wettbewerb zwischen den Herstellern. Wenn die Ergebnisse einer Klinischen Studie für ein Medikament, das noch Schutzrechte genießt, sofort allen Konkurrenten offen stünden, würden die sich darauf stürzen – zum Schaden dessen, der für die Studie viel Geld ausgegeben hat. Man muss die Freizügigkeit mit Fingerspitzengefühl handhaben.

FRÖLICH: Also doch wieder in die Panzerschränke mit der Information?

SICKMÜLLER: Auch wenn Ihnen das wie Geheimniskrämerei erscheint: Es käme sogar der Arzneimittelsicherheit zugute, wenn die Anmeldungsunterlagen von „alten” Wirkstoffen einen Schutz vor dem Einblick Dritter genießen würden. Auch altbekannte Stoffe – das Paradebeispiel ist die Acetylsalicylsäure alias Aspirin – haben große Potentiale auf neue Anwendungsgebiete, die oft erst nach Jahren entdeckt werden. Bei Wirkstoffen, die jahrzehntelang in der Anwendung sind, weiß man zusätzlich aus der Praxis sehr viel über ihre Risiken und hat damit umzugehen gelernt – also lohnt gerade hier die Suche nach unentdeckten Wirkungen. Aber das ist nur dann unternehmerisch sinnvoll, wenn die Anmeldungsunterlagen noch vor dem Einblick der Konkurrenz geschützt sind.

bdw: Und das ist nicht mehr der Fall?

SICKMÜLLER: 1998 wurde durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs der Unterlagenschutz für bekannte Wirkstoffe aufgehoben. Ich finde, das Bundesgesundheitsministerium sollte sich dringend dafür einsetzen, dass dies rückgängig gemacht wird.

FRÖLICH: Mir liegt etwas anderes am Herzen: Es muss schnellstens mehr aktuelle Information über Arzneimittel- Sicherheit und richtige Dosierung direkt zum niedergelassenen Arzt gelangen. Der Ansatz „unabhängiger Informationsdienst” könnte weiterhelfen. Einer ist beispielsweise in Dresden, einer mit dem Namen AID in Hannover – den hat das Institut für Klinische Pharmakologie in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen ins Leben gerufen. Der AID betreut 10000 Ärzte in Niedersachsen. Die können bei allen Fragen zu Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten nach Belieben anrufen, faxen oder eine E-Mail schicken. Sie bekommen dann von unserem Institut rasch eine Expertenauskunft. Ich wünsche mir, dass dies Schule macht und in absehbarer Zeit zu einem Deutschland weiten Informationssystem führt, zu einer Datenbank mit regionalen Kompetenzschwerpunkten.

bdw: Ein Riesenaufwand – warum eigentlich? Vergessen die Ärzte im Berufsleben so rasch, was sie in ihrem Studium über Dosierungsfragen et cetera gelernt haben?

FRÖLICH: Wenn sie nur die Chance gehabt hätten, es im Studium zu lernen. Es gäbe ja ein Fach, das sich mit der Anwendung von Medikamenten beim individuellen Patienten befasst, auch mit dessen persönlicher Arzneimittelsicherheit: die „Klinische Pharmakologie”. Aber dieses Fach gehört an keiner einzigen Hochschule in Deutschland zum verbindlichen Ausbildungsplan für Medizinstudenten.

bdw: Wer macht denn die Ausbildungspläne für angehende Ärzte?

FRÖLICH: Das Bundesministerium für Gesundheit ist für die so genannte Approbationsordnung verantwortlich. Darin ist aufgelistet, welche Fächer zu lehren sind.

bdw: Die Bundesgesundheitsministerin ist doch gerade dabei, die Approbationsordnung neu zu fassen.

FRÖLICH: Ja, die Novelle liegt sogar schon zur Beschlussfassung im Bundesrat. Das wäre eine Chance gewesen, endlich die Ausbildung der Ärzte in Deutschland um die Anwendung von Medikamenten am Menschen zu erweitern. Aber sie wird offenbar vertan. Frau Schmidt hat mir nämlich mitgeteilt, ihr Ministerium habe vor, in der neuen Approbationsordnung „die pharmakologische Ausbildung” zu verstärken. So viel Unverständnis wirft mich um. Die Pharmakologie, die unsere Gesundheitsministerin stärken will, ist ein naturwissenschaftliches Grundlagenfach, auf der Basis von Tier- und Reagenzglasexperimenten. Da erfahren die angehenden Mediziner durchaus Wissenswertes über Wirkprinzipien, Ausscheidungswege und anderes. Sie erfahren aber höchstens zufällig etwas über die richtige Verschreibung und Dosierung bei menschlichen Patienten. Ich bin fassungslos, dass das zuständige Ministerium anscheinend den Unterschied zwischen Pharmakologie und Klinischer Pharmakologie nicht kennt. Die Reaktion des Ministeriums auf die Kritik an der derzeitigen Ausbildung kommt mir so vor, als ob man einem Autohersteller mitteilen würde: „Die Bremsen in Ihren Fahrzeugen sind unzuverlässig, es ist bereits zu einer Reihe von tödlichen Unfällen gekommen.” Und der würde antworten: „Vielen Dank, wir haben das Problem erkannt. Wir montieren künftig bessere Skigepäckträger aufs Dach.”

bdw: Nach Ihrer Studie kennt doch etwa die Hälfte der Klinikärzte die korrekte Dosierung. Wo haben die es gelernt, wenn nicht im Studium?

FRÖLICH: In ihrer AIP-Zeit. Das heißt ausgeschrieben „Arzt im Praktikum” und ist eine „Gesellenzeit” für den angehenden Arzt. Nach bestandenem Staatsexamen ging der junge Mediziner bislang anderthalb Jahre lang an eine Klinik, wo er unter Anleitung von älteren Kollegen an die Behandlung von Patienten herangeführt wurde. Da hat er manches über die Verordnung von Arzneimitteln mitbekommen.

bdw: Ausbildung am Arbeitsplatz, sozusagen?

FRÖLICH: So war es bisher. Aber damit ist nun wohl Schluss. Frau Ministerin Schmidt ist nämlich gerade dabei, die AIP-Zeit abzuschaffen. Zu meinem Entsetzen heißt das also künftig: Der junge Mediziner geht nach dem Staatsexamen an eine Klinik und erhält sofort eine Station zugewiesen, in der beispielsweise 24 Schwerkranke liegen. Für diese Menschen trägt er allein die volle Verantwortung, diagnostisch und in der Verordnung von Medikamenten. Wenn ich sarkastisch wäre, müsste ich davor warnen, künftig überhaupt noch ins Krankenhaus zu gehen.

Barbara Sickmüllerist Honorarprofessorin der Philipps-Universität Marburg, wo sie nach dem Pharmaziestudium in Pharmazeutischer Chemie promoviert hat. Die approbierte Apothekerin ist Geschäftsführerin für den Bereich Medizin und Pharmazie im Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) und gleichzeitig stellvertretende BPI-Hauptgeschäftsführerin. Seit 1989 ist sie, berufen durch das Bundesministerium für Gesundheit, Mitglied im Sachverständigen-Ausschuss für Verschreibungspflicht.

Jürgen C. Frölich ist Professor für Klinische Pharmakologie sowie approbierter Arzt, davor – bis 1978 – war er Professor für Innere Medizin in den USA. 1994 richtete er zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen den Arzneimittelinformationsdienst AID ein. Frölich leitet das Institut für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ).

Thorwald Ewe

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