Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Trost aus dem Netz

Allgemein

Trost aus dem Netz
Jetzt auch in Deutschland: Psychotherapie im Internet. Viele Menschen, die Hilfe brauchen, scheuen zunächst den direkten Kontakt mit einem Berater. Die anonyme Computerwelt bietet offenbar erfolgreichen Ersatz.

Boris Funk (Name geändert) war 17 Jahre alt und litt an ersten Anzeichen von Schizophrenie. Doch zu einem Therapeuten wollte er nicht gehen. Er hatte Angst, seine Eltern könnten von seinen Problemen erfahren, wenn ihnen ein Brief der Krankenkasse in die Hände fiele. In der Anonymität des Internet fühlte er sich sicher. Er vertraute sich Frank van Well an. Der Diplompsychologe hat die Online-Beratung der Telefonseelsorge Köln gegründet und berät dort per Computer.

Regelmäßig unterhielt van Well sich mit Boris Funk über dessen Probleme: Mal gingen elektronische Briefe hin und her. Mal schalteten beide ihre Computer zu einem sogenannten Chat zusammen, so daß van Well direkt auf die Sätze seines Schützlings eingehen konnte. Der Teenager berichtete, wie er die von ihm angebetete Claudia mit ihrem Freund zusammen gesehen hatte (Psychologe: „Jau, das tut weh”) und wie er ein Mädchen mit aufgeritzten Pulsadern traf und deshalb seine Selbstmordgedanken beiseite schob (Psychologe: „Das klingt doch toll!!!!”). Nach Monaten erst war Boris Funk bereit, einen nicht-virtuellen Fachmann zu konsultieren. Funk kam für ein halbes Jahr in die Psychiatrie, heute kann er wieder arbeiten. Gelegentlich meldet er sich bei van Well und berichtet, wie es ihm geht. Wahrscheinlich war es sein Glück, daß er beizeiten in Behandlung kam. „Irgendwann wäre die Schizophrenie offen ausgebrochen”, ist Psychologe van Well überzeugt. Anzeichen für eine ernsthafte psychische Störung finden sich bei jedem siebten, der sich per Computer an die Internet-Adresse der Telefonseelsorge wendet. Die anderen leiden vor allem an Einsamkeit, Beziehungsschwierigkeiten oder Alkoholproblemen. Im ersten Jahr nach der Gründung der Online-Beratung gab es 345 Kontakte, im vergangenen Jahr bereits 2500. Ausgerechnet die als altmodisch geltende Telefonseelsorge verkörpert damit hierzulande einen aus den USA kommenden Trend: psychologische Hilfe aus dem Netz. In den Staaten existieren über 150 einschlägige Angebote. „Hilfe online” offerieren Psychiater und Psychologen, aber auch Krankenschwestern, Lehrer und selbsternannte Heiler. In Deutschland formiert sich die Szene langsam. Bewährte Einrichtungen wie Pro Familia und Aidshilfe nehmen sich bereits per Internet der Probleme ihrer Klientel an. Therapeuten lassen sich dagegen erst vereinzelt im Netz blicken. Selbst in mehrstündiger Suche läßt sich im deutschen Web kein Dutzend finden. Einige haben gerade erst angefangen und noch kaum Zulauf. Andere gaben bereits wieder auf, weil die Nachfrage zu gering war. Selbst bei einem in Buch und Zeitungsartikeln propagierten Angebot eines Psychologenteams gingen in zwei Jahren keine 20 Anfragen ein.

Doch es gibt auch erfolgreiche Beispiele. So kümmerte sich der Klinik-Psychologe Friedhelm Grafweg um etwa 50 Hilfesuchende, stellte aber den Dienst ein, weil er die Gebühr von 1,30 Mark pro Minute nicht mehr über die Telekom abrechnen kann. Selbst eine 75jährige Frau konsultierte ihn online. Sie kam mit ihrem Ehemann nicht mehr klar, weil der seit seinem Schlaganfall zahlreiche Wutanfälle an ihr ausließ. Der Mann mochte keine Hilfe annehmen, doch Grafweg konnte wenigstens mit der Frau überlegen, wie sie sich bei Freunden oder in einem Seniorenclub Unterstützung holen könnte. Andere Ratsuchende wollten wissen, wie sie mit ihren Ängsten umgehen oder von ihren Beruhigungsmitteln wegkommen könnten. Grafweg hütet sich ebenso wie seine wenigen deutschen Online-Kollegen, eine regelrechte Therapie für psychische Störungen anzubieten – er beläßt es bewußt bei der Beratung. So hatte er keine Bedenken, einem Witwer in der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau begleitend beiseite zu stehen. Sollte der Schmerz aber zu einem dauerhaften Problem werden, „wäre die Konsultation einer Psychotherapiepraxis unumgänglich”, stellt Grafweg fest. Solche Vorsicht empfiehlt sich schon aus rechtlichen Gründen. Selbst in den USA spielen Online-Helfer „russisches Roulette mit ihrer Zulassung und ihrer Versicherung”, wie das Magazin Time vergangenes Jahr warnte. In Stuttgart wurde die Psychotherapie-Fachärztin Carmen Heerdegen von der Ärztekammer ermahnt, ihren Beruf nicht online und somit „im Umherziehen” auszuüben. Den Funktionären war entgangen, daß die monierte „ Web-Sprechstunde” lediglich allgemeine Ausführungen wie etwa die Suche nach einem Therapeuten bot.

Eine solche Ignoranz werden sich die Oberen der Ärztezunft nicht mehr lange leisten können. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen denkt über ein Gütesiegel für seriöse Angebote im Web nach. Einfach wird das nicht, denn noch fehlen verläßliche Erkenntnisse über Methoden und Nutzen von Online-Beratungen. Manchmal hat die elektronische Hilfe allerdings offensichtliche Vorteile. So ist sie attraktiv für junge Männer, „die sich in normale Beratungen nicht verirren”, wie Frank van Well sagt. Bei der computerisierten Telefonseelsorge stellen Männer immerhin 55 Prozent der Anfragen, 70 Prozent der Klientel sind unter 30 Jahre alt – telefonisch meldet sich aus dieser Gruppe kaum jemand. Gerade junge Männer legen großen Wert darauf, erst einmal möglichst keine schwachen Punkte zu zeigen: „Die Brüchigkeit der Stimme ist schon zuviel des Guten”, weiß van Well. Der auf elektronische Buchstaben reduzierte Kontakt kommt da gerade recht. Offen ist bislang, bei welchen Schwierigkeiten Experten aus der Ferne weiterhelfen können. Die Psychologen Ralf Ott und Rüdiger Spielberg von der Universität Bonn halten einen simplen E-Mail-Austausch nur bei einfachen Problemen für geeignet, die „einerseits wohldefiniert sind und in wenigen Absätzen beschrieben werden können und andererseits mit einem konkreten Ratschlag oder einer konkreten Information hinreichend beantwortet sind”. In komplizierten Fällen empfehlen sie das Online-Gespräch per Chat. Selbst da kann es leicht zu Mißverständnissen kommen: Kein Gesichtsausdruck und keine Geste können helfen, eine zweideutige schriftliche Formulierung richtig zu interpretieren. Und: Es liegt nicht jedem, sich mit seinem Bildschirm zu unterhalten. Andererseits kann es sogar von Vorteil sein, den Kontakt radikal zu beschränken. „Die Kommunikation ist hier auf das reine Wort reduziert”, schwärmt Grafweg, „sie ist unverfälscht von visuellen und akustischen Eindrücken.”

Anzeige

Schriftlich formulieren die Klienten genauer, und sie halten sich nicht einmal in den ersten Minuten des Kontakts lange mit vorsichtigen Umschreibungen ihres Anliegens auf. „Man schleicht nicht um den heißen Brei herum”, hat Grafweg festgestellt. Nach den Erfahrungen des Psychologen van Well arbeiten typische Online-Klienten „sehr engagiert” mit. Im Gegensatz zur Telefonseelsorge: Da klagen viele Anrufer jahrelang über dieselben Schwierigkeiten, ohne sie jemals anzugehen. Möglicherweise lassen sich selbst schwere psychische Probleme durch das getippte Wort therapieren. Wer an einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung leidet, weil ihn etwa die Erinnerungen an einen Unfall verfolgen, kann sich im Internet bei der Universität Amsterdam melden. Er muß einige Tests ausfüllen, die automatisch ausgewertet werden. Die Patienten sollen beispielsweise detailliert beschreiben, was sie erlebt haben. Wie Forschungen zeigen, verlieren die Erinnerungen schon dabei allmählich ihren Schrecken und werden als etwas Vergangenes angesehen, das die Zukunft nicht verdunkeln muß. „Die Erfahrungen sind ganz gut”, resümiert Paul Emmelkamp, renommierter Psychologieprofessor und einer der Projektleiter. Bald kann womöglich auch denen online geholfen werden, die ihrem Berater lieber in die Augen blicken wollen. Schnelle ISDN-Leitungen verwandeln mit einer kleinen Kamera ausgestattete Computer in ein Bildtelefon für bescheidene Ansprüche. Der Düsseldorfer Psychologe Eugen Sondermann bereitet Verkehrssünder über diesen Kanal auf die medizinisch-psychologische Untersuchung vor, die ihnen wieder zu ihrem Führerschein verhelfen soll: In sechs einstündigen virtuellen Sitzungen versucht er die nötige Einsicht bei den Probanden zu fördern. Denn: Alkoholprobleme weisen die Ertappten zwar erst einmal online genauso von sich wie im persönlichen Gespräch, aber „da erreichen wir schneller eine Öffnung”, erzählt Sondermann. Die Läuterung scheint echt zu sein: 90 Prozent der per ruckelndem Videobild Beratenen bestehen die Untersuchung – ebenso viele wie nach den direkten Beratungen. Trotz dieser Erfolge muß sich erst noch zeigen, wann das Bild des Psychologen oder die Worte der Psychiaterin auf der Mattscheibe den realen Menschen tatsächlich ersetzen können. Schließlich hat jahrzehntelange Therapieforschung gezeigt: Die persönliche Beziehung zum Therapeuten entscheidet stärker über den Erfolg der Behandlung als irgend etwas anderes. Lassen sich Zuwendung und Mitgefühl über Drähte transportieren? Denkbar wäre das – schließlich verlieben sich Menschen auch in eine beliebte Fernsehschauspielerin. Selbst Computer ohne Therapeut im Hintergrund werden bereitwillig als Gegenüber akzeptiert. Das stellte der Forscher Joseph Weizenbaum zu seinem Entsetzen schon in den sechziger Jahren fest. Sein Programm „Eliza” parodierte einen Therapeuten, indem es mechanisch Fragen zu den Eingaben stellte oder Allerweltsweisheiten einstreute. Trotz solch bescheidener Fähigkeiten faßten viele Versuchspersonen Vertrauen zu dem virtuellen Antipoden. Lassen sich Therapeuten am Ende wirklich durch Rechner ersetzen? Der amerikanische Psychiatrieprofessor Roger Gould begrüßt die Besucher auf der Webseite masteringstress.com mit dem Satz „Wann hatten Sie zum letzten Mal ein gutes Gespräch mit einem Computer?” Wer will, kann dem Rechner für zehn Dollar gleich an Ort und Stelle von einem Problem berichten. Dabei wird gleich klargestellt: „Das Programm hilft nicht dadurch, daß es Ihnen die Antwort auf Ihr Dilemma verrät, sondern indem es Ihnen Fragen stellt.” Wer beispielsweise angibt, daß er sich mit seiner Freundin streitet, muß entscheiden, welche Punkte er nicht vergessen sollte: Hat sie gute Gründe für ihren Standpunkt? Ist es wichtiger, den Streit zu gewinnen oder Spannungen in der Beziehung zu vermeiden? So soll der Ratsuchende sich über sein Problem klarwerden und selbst Lösungsmöglichkeiten ersinnen.

Das scheint zu funktionieren. In einer noch unveröffentlichten Studie untersuchten Marion Jacobs und Andrew Christiansen von der University of California in Los Angeles das Programm. Eine Hälfte ihrer Klienten mit diversen Problemen erhielt zehn Stunden herkömmlicher Psychotherapie, die andere verbrachte dieselbe Zeit überwiegend am Computer. Nach der zehnwöchigen Therapie und noch einmal sechs Monate später wurden die Teilnehmer gründlich untersucht. Im Schnitt waren die vom Computer Unterstützten zwar unzufriedener mit der Behandlung, doch ihre Beschwerden hatten sich fast im gleichen Maß gebessert wie die der persönlich Betreuten. Oder könnte man einen Computer vielleicht doch so programmieren, daß ihn niemand von einem menschlichen Therapeuten unterscheiden kann? Der Psychologe John Suler von der Rider University in New Jersey zerbricht sich den Kopf, über welche Fähigkeiten ein solches Maschinenwesen verfügen müßte. Es solle etwa stets seine Wertschätzung des Klienten zum Ausdruck bringen und bei psychologischen Reizwörtern wie „Vater” aufmerken. Doch letztlich glaubt selbst Suler nicht, daß Computer eines Tages den Therapeuten völlig ersetzen werden. „Sie sind Menschen weit unterlegen, wenn es um Gefühle und um das Nachdenken über die Lage des Menschen geht. Und darum dreht sich Psychotherapie.”

Jochen Paulus

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Sper|lings|kauz  〈m. 1u; Zool.〉 sehr kleine, behände Eule der europäischen Gebirgswälder: Glaucicium passerinum

Ver|kehrs|fluss  〈m. 1u; unz.〉 Bewegung der Fahrzeuge im Straßenverkehr

Laich  〈m. 1; Zool.〉 die ins Wasser abgelegten, von einer Schleim– od. Gallerthülle umgebenen Eier der Mollusken, Fische u. Amphibien [<spätmhd. leich, … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige