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Wer schließt die Büchse der Pandora?

Allgemein

Wer schließt die Büchse der Pandora?
Die griechische Götterwelt bringt Klarheit in die modernen Risiken. Es zeigt sich: Der Mensch reagiert besonders empfindlich auf eine Bedrohung, wenn sie jeden treffen kann und ihre Ausmaße ungewiss sind.

Es sieht aus wie das Inferno: Auf unzähligen Scheiterhaufen verbrennen Rinder- oder Schafskadaver auf offenem Feld. Dunkler Rauch steigt zum Himmel, der Gestank ist bestialisch. Tierschützer laufen Sturm, Veterinärmediziner wiegeln ab: Wer das Seuchen-Risiko in den Griff bekommen will, darf nicht zimperlich sein. Nur die totale Vernichtung der BSE-verseuchten Rinder schaffe Sicherheit, so die offizielle britische Version. Gleichzeitig laufen im TV-Sender BBC Bilder eines Todeskampfes: Die 15-jährige Marilyn leidet an der „Neuartigen Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung“. Sie ist bis zum Skelett abgemagert und wartet auf den unausweichlichen Tod. Ist verseuchtes Fleisch der Grund? Auch hier auf der einen Seite kollektive Entrüstung über ein landwirtschaftliches System, das – systemüberschreitend – Tiermehl an vegetarische Kühe verfüttert und die Risiken offenkundig unterschätzt. Auf der anderen Seite die Statistiker, die alles in Relation setzen: In den letzten 15 Jahren sind in Europa ungefähr so viele Menschen an der Neuartigen Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung gestorben wie durch das versehentliche Trinken von parfümiertem Lampenöl. Im ersten Fall mussten Minister ihren Hut nehmen, und die wirtschaftlichen Verluste wurden in Euro-Milliarden angegeben. Für das Risiko durch parfümiertes Lampenöl konnte die zuständige Behörde, das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV), nicht einmal einen Warnhinweis durchsetzen. Derlei Beispiele aus dem Repertoire der Risiko-Forscher werfen nicht nur in der Bevölkerung Fragen auf: Versagen unsere politischen und sozialen Systeme, die Risiken für Gesundheit und Umwelt nach rationalen und nachvollziehbaren Kriterien begrenzen sollen? Laufen wir in eine Risikospirale hinein, bei der wir echte oder vermeintliche Risiken mit immer neuen Risiken zu begrenzen versuchen? Können wir die Folgen unseres Handelns überhaupt noch sinnvoll abschätzen und einen Mittelweg zwischen Tollkühnheit und technologischer Erstarrung einschlagen? Ob BSE, Maul- und Klauenseuche, globaler Klimawandel oder Bioterrorismus – die Öffentlichkeit wird einem Wechselbad aus Katastrophenmeldungen, technologischen Durchbrüchen, Dramatisierungen und Verharmlosungen, Weltuntergangsprophezeiungen und paradiesischen Verheißungen ausgesetzt. Die Folge ist Verunsicherung. Seit Jahren beschäftigt sich die in Stuttgart ansässige Akademie für Technikfolgenabschätzung (TA-Akademie) mit den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen von Risiko und Risikomanagement. Die Projekte der Akademie gehen der Frage nach: Wie hoch sind die Risiken der modernen Welt wirklich? Gibt es Frühwarnsysteme, um ein zweites BSE-Desaster und ein zweites Ozonloch zu vermeiden? Die heutige Situation erscheint dramatisch. Sie ist so neu aber nicht, wie es auf den ersten Blick aussieht. Gerade in Zeiten historischer Umbrüche wurde das Thema „Umgang mit Risiken“ immer wieder in der Sprache der Zeit aufgegriffen und zum überragenden Stoff der gesellschaftlichen Diskussion: Ab etwa 700 vor der Zeitenwende wandelte sich das antike Griechenland von einer Tyrannenherrschaft in eine eher kleinbäuerliche und handwerkliche Kultur. Vor allem Hesiods Götter-Geschichten und sein Almanach für die Bauern sind Zeugnisse dieses Umbruchs. Der griechische Dichter benutzte für seine Risikobeschreibung mythologische Bilder. Deren Inhalt und Sinn erschließen sich erst bei näherem Hinsehen und setzen ein Verständnis für symbolische Botschaften voraus. Dann allerdings sind sie wirksame Kommunikationsangebote mit indirekten Handlungsanweisungen. Im Mittelpunkt von Hesiods Götterwelt steht Prometheus – der Vorhersehende. Gegen den Willen der Götter lässt er die Menschen an seiner Gabe teilhaben und bringt ihnen zudem noch das Feuer. Dafür wird er von den Göttern hart bestraft: An einem Felsen angekettet wird dem Unsterblichen von einem Vogel die Leber herausgerissen – Tag für Tag, bis Herakles ihn befreit. Die Menschen werden durch die Gabe des Prometheus zu Mitschöpfern ihrer Umwelt: Vorausschau ist unabdingbare Voraussetzung für Ackerbau und Viehzucht, die Kontrolle über das Feuer Bedingung für Handwerk und städtisches Leben. Damit erwacht das Bewusstsein der Menschen für die Folgen ihrer Handlungen. Die Götter aber zürnen über die neue Machtfülle der Menschen. Sie schicken Pandora, eine verführerische Frau, zu Prometheus. Der weist sie in weiser Voraussicht ab. Doch sein Bruder Epimetheus – dessen Name darauf hinweist, dass er erst handelt und dann denkt – lässt sich von Pandora blenden und lädt sie in sein Haus ein. Dort öffnet sie ihre berühmte Büchse. Aus ihr quellen alle Übel dieser Welt heraus und begleiten seitdem die Menschen: Krankheit, Siechtum, Unglück. Als Letztes bleibt nur ein Geschenk: die Hoffnung. In diesem Mythos sind alle Merkmale moderner Risikokonflikte enthalten: die Folgenabschätzung durch vorausschauendes Wissen, die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, die unvermeidbare Kopplung von Chancennutzung und negativen Nebenwirkungen, das Sich-Blenden-Lassen durch Verheißungen, ohne die Kosten zu beachten. Die heutige weltweit typische Risiko-Forschung berechnet das Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Schadensmöglichkeiten und baut darauf Maßnahmen auf, die das Risiko – verstanden als Ausmaß multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit – auf ein gerade noch tolerables Maß (Restrisiko) reduzieren. Doch offensichtlich reicht das nicht aus, um Risiken wie BSE, den Klimawandel oder gentechnische Veränderungen in den Griff zu bekommen. Der Ansatz ist für eine kleine, aber in ihrer Auswirkung folgenschwere Anzahl von Risiken nicht mehr adäquat. Die Beschäftigung mit dem „ Mythos Prometheus“ brachte eine Reihe von Göttern und mythischen Wesen mit Leitbildcharakter ins Bewusstsein der Stuttgarter Risiko-Forscher, die jeweils ein hervorstechendes Merkmal des Risikos personifizieren. Die TA-Akademie führte die mythologische Risikoerfahrung mit der aktuellen Risikoforschung zu einer Synthese zusammen. Das Ergebnis ist eine Risikotypologie, die sechs Risikoklassen mit sieben Merkmalen verbindet und die gesamte Risikopalette abdeckt (siehe Kasten „Der Mythos stand Pate“). Daraus können Strategien für das Risikomanagement abgeleitet werden. Nach der griechischen Mythologie musste Damokles, ein Günstling am Hofe des Tyrannen Dionysos von Syrakus, sein Mahl im Palast unter einem scharfgeschliffenen, an einem Pferdehaar aufgehängten Schwert einnehmen – Sinnbild einer im Glück drohenden Gefahr. Das Risiko bestand in der Möglichkeit eines tödlichen Ereignisses bei geringer Wahrscheinlichkeit. Typische moderne Beispiele hierfür sind technologische Risiken durch Kernenergie, großchemische Anlagen und Staudämme, aber auch durch Meteoriteneinschläge. Dieser Risikotyp ist gekennzeichnet durch die Kombination aus geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und sehr hohem Schaden. Die einäugigen Riesen der griechischen Mythologie standen Pate für den zweiten Risikotyp. Die Zyklopen (Rundaugen) können die Welt nur eindimensional wahrnehmen, sie versinnbildlichen Risiken, bei denen eine Seite bekannt ist, die andere aber ungewiss bleibt: Der Schaden kann abgeschätzt werden, die Eintrittswahrscheinlichkeit jedoch nicht. Natürliche Gefahren wie Erdbeben, Vulkanausbrüche und El Niños sind typische Vertreter. Bei Risiken des Typs Zyklop gibt es meist zu wenig Kenntnis über die auslösenden Ursachen. Sind beide Komponenten – Wahrscheinlichkeit und Ausmaß – ungewiss, passt das zur Risikoklasse der Pythia. Die Voraussagen der blinden Seherin von Delphi waren immer mehrdeutig. Für die Risikobewertung bedeutet dies: Sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die Dimension eines Schadens sind unsicher, die Ungewissheit ist hoch. Beispiele sind menschliche Eingriffe in Ökosysteme, gentechnologische Innovationen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion sowie ein möglicherweise galoppierender Treibhauseffekt. Bei den Risiken ist Pythia mit Pandora verwandt: Solange die Büchse der Pandora geschlossen bleibt, ist nichts zu befürchten, wird sie jedoch geöffnet, verursachen die freigesetzten Übel weit reichende und/oder irreversible Schäden. Die Eintrittswahrscheinlichkeit und der mögliche Schaden sind ungewiss. Die möglichen Schäden überschreiten jedoch regionale Grenzen und können globale Auswirkungen haben. Sie sind oft mehrere Generationen wirksam, die Folgen in der Regel irreversibel. Typische Vertreter sind persistente organische Schadstoffe (POP) und Veränderungen im Biosystem, die über lange Zeiträume stabil bleiben. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Zerstörung der Ozonschicht durch FCKW. Kassandra, die Seherin der Trojaner, sagte den griechischen Sieg voraus, aber ihre Landsleute schenkten ihr keinen Glauben. Bei den Risiken dieses Typs schätzen die Experten die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Folgen sehr hoch ein. Aber: Es liegt eine erhebliche Zeitspanne zwischen dem auslösenden Ereignis und dem Eintritt des Schadens. Der vom Menschen verursachte Klimawandel und der weltweite Verlust biologischer Vielfalt werden mit hoher Wahrscheinlichkeit stattfinden, da aber der Schaden erst in ferner Zukunft auftritt, ist kaum jemand bereit, diese Bedrohungen anzuerkennen. Verbleiben als letzte Klasse die Risiken der Medusa: Die Gorgonen, drei Monsterschwestern, fürchteten selbst die griechischen Götter. Medusa, eine von ihnen, ließ jeden zu Stein werden, der sie direkt anschaute. Schrecken lösen auch einige moderne Phänomene durch die subjektive Risikowahrnehmung der Menschen aus. Obwohl sie, wissenschaftlich gesehen, kaum als Bedrohung eingeschätzt werden können, werden einige Innovationen abgelehnt, weil sie dem Einzelnen Angst einjagen oder sozial unerwünscht sind. Solche Phänomene mobilisieren die Öffentlichkeit in einem hohen Maß. Elektromagnetische Felder, in der Umgangssprache „Elektrosmog“ genannt, sind ein typisches Beispiel dafür. Die sechs Klassen zeigen, wie Gesellschaften besser mit den Risiken der jeweiligen Klasse umgehen können und sollten. Jeder Risikotyp hat eine Eigenschaft, die ihn von den anderen abhebt. An dieser müssen die Maßnahmen zur Risikobegrenzung ansetzen. Das Risikoteam der TA-Akademie hat aus den sechs Risikoklassen drei grundsätzliche Handlungsoptionen gefiltert, die als Risiko-orientierte, Vorsorge-orientierte und diskursive Strategien bezeichnet werden. Damokles und Zyklop (Kernenergie/ Chemieanlagen und Erdbeben/Aids) benötigen vor allem Risiko-orientierte Strategien. Pythia und Pandora (Klima/BSE/Gentechnik und Ozon/Biosystem-Veränderungen) erfordern Vorsorgemaßnahmen. Kassandra und Medusa (Klimawandel/Artenvielfalt und Elektrosmog) machen vorrangig diskursive Strategien zur Bewusstseins- und Vertrauensbildung notwendig. Risiko-orientierte Strategien: Beim Risikotyp Damokles sind die wichtigsten Bewertungskriterien – Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß – relativ gut bekannt, so dass die verbleibenden Ungewissheiten ungefähr abgeschätzt werden können. Damokles-Risiken haben jedoch ein hohes Katastrophenpotenzial, das – eine primäre Aufgabe des Risikomanagements – reduziert werden muss, etwa durch Forschung oder Veränderungen des technischen Designs. Beim Risikotyp Zyklop ist eine Verknüpfung von Risiko-orientierten und Vorsorge-orientierten Strategien nützlich, weil das Schadensausmaß weitgehend bekannt ist, aber die Wahrscheinlichkeit ungewiss bleibt. Um diese Kluft zu verringern, ist eine verstärkte Forschung und eine verbesserte Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit erforderlich. Eine Versicherungspflicht für Risikoerzeuger setzt einen zusätzlichen Anreiz zur Reduzierung des Katastrophenpotenzials: Die Betreiber werden dadurch ermutigt, ihre Kenntnisse zu verbessern und die verbleibenden Risiken zu verringern. Vorsorge-orientierte Strategien: Bei den Risikoklassen Pythia und Pandora sind Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß ungewiss. Bei Pandora kommt hinzu, dass die Auswirkungen zeitlich wie örtlich andauern, also Folgen gar nicht oder nur mit großem Aufwand rückgängig gemacht werden können. Hier ist besondere Vorsicht im Sinne des vorausschauenden Prometheus angebracht. Ein generelles Gebot zur Minimierung schädlicher Auswirkungen kann hier als Erstes greifen: Risiken werden kontinuierlich reduziert, gleichgültig ob dadurch messbare Effekte auf Gesundheits- und Lebensrisiken verbunden sind. Das bestehende Umweltrecht kennt solche Minimierungsgebote unter den Begriffen ALARA (as low as reasonably achievable), BACT (best available control technology), SdT (Stand der Technik) und andere mehr. Zum Zweiten: Je eher solche Risiken in ihrer zeitlichen und örtlichen Ausdehnung begrenzt werden, desto besser kann man mit möglichen negativen Folgen leben, sollte sich ein Anfangsverdacht auf schädliche Wirkung als berechtigt herausstellen. In der grünen Gentechnik wird nach diesem Prinzip weitgehend verfahren. Zum Dritten können Risikomanager nach Indikatoren Ausschau halten, die ein leicht messbares Merkmal des Ausgangsstoffes oder der -technik beschreiben und gleichzeitig die Möglichkeit einer fatalen Wirkung indizieren. In einem größeren Projekt für die EU ermittelt die TA-Akademie zusammen mit Partnern aus der Schweiz und Großbritannien solche Indikatoren für Chemikalien. Diskursive Verfahren: Für Risiken der Klassen Kassandra und Medusa sind auf die Gesellschaft bezogene Management-Maßnahmen gefragt. Bei Kassandra nimmt die Gesellschaft ein ernsthaftes Risiko nicht zur Kenntnis, bei Medusa dramatisiert sie ein Risiko, ohne dass es dafür gute Gründe gäbe. Die Therapie für beide ist ähnlich: mehr Kommunikation und Vertrauen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Bei Kassandra muss die Ernsthaftigkeit der Bedrohung verdeutlicht werden. Das geschieht am besten durch Diskurse mit den gesellschaftlichen Gruppen, die auf Langzeitperspektiven hin orientiert sind. Hier sind Kirchen, multinationale Unternehmen, Umweltgruppen, Regierungen und internationale Organisationen gleichermaßen gefragt. Bei Medusa hilft nur eine transparente und urteilsbildende Kommunikation, die nicht oberlehrerhaft daherkommt, sondern dem Bürger tatsächlich die Chance gibt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Solche Diskurse sind zum Beispiel unverzichtbarer Bestandteil der TA-Aktivitäten. Diese drei Managementstrategien sind nicht exklusiv zu verstehen. Vielmehr müssen viele Risiken parallel nach allen drei Klassen behandelt werden. Es ist geradezu das Kennzeichen der modernen Risiken, dass bei ihnen alle drei Managementkategorien eingesetzt werden müssen. Diese Überlegungen und Arbeiten erfolgten vor dem 11. September 2001. Haben die einstürzenden Türme von New York die neue Risikoklassifikation ins Wanken gebracht? Zumindest die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht das nicht so. Kaum waren die Schreckensmeldungen verklungen und das Bedrohungspotenzial durch Milzbrand und andere biologische Kampfstoffe erkennbar, wurde die TA-Akademie gebeten, ihre Risikoklassifikation auf die neue Bedrohung anzuwenden. Die Frage: Kann man das Risiko von biologischen Kampfstoffen in den Händen von selbstmordwilligen Terroristen sinnvoll erfassen und geeignete Gegenmaßnahmen treffen? Die klassischen Werkzeuge der Risikoabschätzung sind hier tatsächlich nicht mehr anzuwenden, denn die Wahrscheinlichkeit solcher terroristischen Anschläge ist mit mathematischen oder wissenschaftlichen Kriterien nicht kalkulierbar. In der neuen Klassifikation entspricht diese Gefahr dem Typus Zyklop, der durch großes Katastrophenpotenzial und Ungewissheit bei der Wahrscheinlichkeit charakterisiert ist. Und es gibt Elemente von Pythia, Kassandra und Medusa. Daraus können die Maßnahmen abgeleitet werden, die eine verunsicherte Gesellschaft ergreifen kann. Die Grundbotschaft des Mythos Prometheus sollte dabei nicht untergehen: Die Zukunft wird zwar von uns „gemacht“, sie ist aber nicht „machbar“. Wir gestalten zwar die Bedingungen unseres künftigen Lebens, wir beherrschen unsere Zukunft aber nicht. Bloßes Machen führt zwangsweise in die Hybris, bloßes Erdulden ins Elend. Verantwortungsbewusstes Risikomanagement bedeutet: Die Chancen der technischen Entwicklung nutzen und dabei die negativen Nebenwirkungen so eingrenzen, dass für alle die Chance auf ein menschengerechtes Leben vergrößert wird.

Kompakt

Wissenschaftler beurteilen Risiken meist anders, als der Bürger sie subjektiv empfindet. Heftige Reaktionen der Bevölkerung auf diffuse Gefährdungen verursachen enorme Schäden. Die Wissenschaft hat Kriterien für ein verantwortungsbewusstes Risikomanagement entwickelt. BSE, Der Mensch und seine Hysterie bild der wissenschaft: Herr Professor Renn, warum reagieren wir so häufig panisch? Renn Wir sind von der Evolution ausgerüstet, auf Gefahren schnell und zielgerichtet zu reagieren. Vor allem wenn die Gefahren nicht deutlich sind, ist es von Vorteil, eher zu stark zu reagieren als abzuwarten. bdw: Und bei erkennbaren und kalkulierbaren Bedrohungen? Renn Bei Risiken, die klar und unverkennbar sind, wird bei den meisten Menschen der Kampfesgeist wach. Das ist eines der drei Reaktionsmuster, die wir aus der Verhaltensforschung als Antwort auf Gefahr kennen: fliehen, kämpfen, tot stellen. Diese evolutionären Verhaltensmuster sind heute kulturell überlagert. bdw: Die Rationalität ist bei überschießenden Reaktionen ausgeschaltet? Renn: Das hat sich evolutionär als sinnvoll erwiesen. Wer erst kalkuliert und dann reagiert, den bestraft das Leben. Aber es kommt noch ein Zweites hinzu: Viele Risiken sind aus zweiter Hand vermittelt, Form und Konsequenz der Bedrohung sind keine eigene Erfahrung. Diese „ vermittelte Wirklichkeit“ erzeugt Unbehagen und ruft dann auch bei relativ kleinen Risiken große Reaktionen hervor. bdw: Vermittelt werden Bedrohungen durch die Massenmedien. Wann wird ein Risiko zum medialen Ereignis? Renn: Wenn, erstens, theoretisch jeder betroffen sein könnte, Beispiele: BSE, chemische Zusätze in Lebensmitteln und Wasser. Und, zweitens, bei Einzelfällen mit besonders schlimmen Folgen: Wenn wir im Fernsehen einen Toten sehen, der durch Creutzfeldt-Jakob oder Asbestose gestorben ist, dann brauchen wir keine Statistik mehr. bdw: Was ist der auslösende Punkt, der aus einem Risiko eine Massenhysterie werden lässt? Renn: Wenn die Medien etwas aufgenommen und verstärkt haben, ungeschickte Reaktionen des betroffenen Managements hinzukommen und es einen politischen Sündenbock gibt – dann ist die Mischung perfekt. BSE ist ein extremes, aber gutes Beispiel: Wir haben in Deutschland keinen Fall von BSE-erzeugtem Creutzfeldt-Jakob. Es gibt aber – erstens – in England welche. Fast alle Deutschen haben – zweitens – Rindfleisch gegessen, und – drittens – der Minister sagt noch drei Wochen vor dem Skandal: Es gibt keinen BSE-Fall in Deutschland. Hier wurden die drei Ingredienzien für eine fast massenhysterische Reaktion zusammengerührt. bdw: Also viel Lärm um nichts? Renn: Das will ich so nicht sagen. Dies ist ein typisches Beispiel für die von uns so genannten systemischen Risiken: Das tatsächliche physische oder medizinische Risiko bleibt begrenzt, aber die ökonomischen, finanziellen und sozialpolitischen Auswirkungen sprengen alle Grenzen des Üblichen. bdw: Die BSE-Betroffenheit war die Kollektiv-Erfahrung des letzten Jahres. Wie sieht es mit der Risiko-Wahrnehmung im privaten Bereich aus? Renn: Der Mensch reagiert sehr unterschiedlich auf Risiken. Im privaten Umfeld sucht er häufig Risiken, mit denen er beweisen kann: Ich beherrsche das! Damit gewinnt er ein hohes Maß an Souveränität und Ichstärke. bdw: Dazu gehört Bungee-Springen ebenso wie riskantes Autofahren? Renn: Ja, oder auch Horrorfilme gucken. Dieser Thrill – mit extremer Geschwindigkeit zu fahren und zu erleben: Die Maschine gehorcht mir, ich kann bis an die Grenze des Ausscherens in die Kurve reingehen – hat nichts damit zu tun, dass man schneller von einer Stadt in die andere kommt. Das ist das befriedigende Gefühl, etwas zu beherrschen – und das gehört mit zum Menschsein. bdw: Etwas profaner: Warum werden Freizeit- und Haushaltsrisiken so erfolgreich verdrängt? Dabei kommen immer noch die meisten Menschen um. Renn: Bei den Gewohnheitsrisiken, die allgegenwärtig sind und immer wieder auftauchen, bleiben ja die Menschen in den meisten Fällen ungeschoren. Nur der statistische Bodensatz führt zum Tode – allerdings in hohen absoluten Zahlen. 99,9 Prozent brechen sich aber nicht das Genick, wenn sie auf eine Leiter steigen. Die Wahrscheinlichkeit ist also für mich so klein, dass dies nicht in meine persönliche Risikorechnung einfließt. bdw: Das wäre also rationales Risiko- Management im privaten Bereich. Wie sieht es am Arbeitsplatz aus? Renn: Gerade bei den Berufen, in denen sehr viel, aber meistens nichts Tödliches passiert, ist das Sicherheits-Bewusstsein besonders gering. Beispiel Waldarbeiter: Die haben das absolut höchste Berufsrisiko, wenn man die wenigen, dann aber schweren Unfälle zusammenzählt. Nun kommen zwei Dinge zusammen: Waldarbeiter verletzen sich oft, aber meist nur leicht, und sie haben eine ausgesprochene Macho-Mentalität. Sie fühlen sich als die Waldcowboys, Schutzkleidung ist unter ihrer Würde. bdw: Und wie polt der Risikoberater solche Einstellungen um? Renn: Wir haben bei einer Kampagne in der Schweiz empfohlen, Schutzkleidung nicht als solche zu bezeichnen, sondern als „Parkranger-Uniform“, als Zeichen der Professionalität. Das hat die Akzeptanz für die Schutzkleidung enorm erhöht. bdw: Risikoberatung ist Verhaltenstherapie? Renn: Verhaltenstherapie und ein bisschen Risikopsychologie.

Die Diskursive Akademie „Land- und Forstwirtschaft kann ökologisch sein, ohne dass ökonomische und soziale Aspekte darunter leiden müssen“ (1997). Oder: „Die Deutschen sind keineswegs technikfeindlich“ (1998). Und: „E-Commerce schafft keine zusätzlichen Arbeitsplätze“ (2000). Drei Ergebnisse aus dem breit gefächerten Forschungsspektrum der „Akademie für Technikfolgenabschätzung Baden-Württemberg“ (TA-Akademie). Die in Deutschland einmalige Institution, die gerade ihr zehnjähriges Bestehen feiert, macht Wissenschaft zur öffentlichen Sache. Ob Ingenieurmangel, Risikowahrnehmung, Akzeptanz von Gentechnik, Patientenautonomie, Abfallentsorgung oder Nachhaltigkeit – die unabhängige Stiftung des Landes Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart erforscht interdisziplinär die Folgen neuer Technologien, beurteilt sie und vermittelt die Ergebnisse der Öffentlichkeit. Hinter dem oft missverstandenen Begriff „ Technikfolgenabschätzung“ steht der Anspruch auf eine systematische, wissenschaftlich abgesicherte und unparteiische Identifizierung und Bewertung von technischen, umweltbezogenen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und psychischen Wirkungen, die mit der Entwicklung, Produktion und Nutzung von Techniken zu erwarten sind. Die etwa 50 Wissenschaftler der TA-Akademie forschen nicht im Elfenbeinturm. In Bürgerforen, Fokusgruppen, Kongressen und Workshops werden die Fragestellungen und Zwischenergebnisse mit den betroffenen Bürgern diskutiert, die Arbeitsweise ist also diskursiv. Zu den Auftraggebern der TA-Akademie gehören internationale Organisationen wie die OECD und die WHO, die Europäische Union, die Bundes- und verschiedene Landesregierungen, aber auch Verbände, Stiftungen und Verantwortliche auf der kommunalen Ebene.

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Ortwin Renn / Andreas Klinke

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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War|zen|schwein  〈n. 11; Zool.〉 Wildschwein mit warzenförmigen Auswüchsen am Kopf: Phacochoerus aethiopicus

Grad  〈m. 1; bei Zahlenangaben Pl.: –; Zeichen: °〉 1 Abstufung, Stufe, Stärke, Maß (Wirkungs~) 2 Maßeinheit von Winkeln od. Skalen auf physikalischen Messgeräten, bes. für die Temperatur … mehr

Ber|ber|af|fe  〈m. 17; Zool.〉 schwanzloser Affe NW–Afrikas: Simia inuus; Sy Magot … mehr

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