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Drei Klettersteige zum Quanten-Olymp

Astronomie|Physik

Drei Klettersteige zum Quanten-Olymp
Neue Wege im Reich des Allerkleinsten – wie Forscher die Quanten-Paradoxien überwinden wollen.

„Es ist einigermassen hart zu sehen, dass wir uns immer noch im Stadium der Wickelkinder befinden”, schrieb Albert Einstein 1950 in einem Brief an Erwin Schrödinger. Zu unausgegoren schien ihm – allen experimentellen Erfolgen zum Trotz – die von ihm selbst mitbegründete Quantentheorie. Inzwischen aber herrscht Aufbruchstimmung unter den Quantenphysikern, wie eine internationale Konferenz in Bielefeld vor einigen Monaten gezeigt hat. Nicht nur raffinierte Experimente, sondern vor allem auch neue theoretische Ansätze sollen Licht in den Nebel der Quanten-Paradoxien bringen.

Der zentrale Punkt: Uns fehlt das hinreichende Verständnis davon, was die Quantentheorie wirklich bedeutet – das ist das Problem der richtigen Interpretation. Im wesentlichen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist die Grundgleichung der Quantentheorie, die Schrödinger-Gleichung, richtig und muss nur – wie auch Einstein dachte – vervollständigt werden. Oder sie ist streng genommen falsch und muss verändert werden.

„Unterschiedliche Interpretationen machen dieselben Voraussagen für die Ergebnisse von Messungen. Und das ist der Grund, warum man sich über die Interpretationen streiten kann”, sagt James Hartle von der University of California in Santa Barbara. „Gibt es dagegen verschiedene Voraussagen, dann handelt es sich um verschiedene Theorien, und die Diskussion um die Interpretationen ist unnötig: Wir könnten die Theorien experimentell unterscheiden. Eine wäre richtig, die anderen falsch.”

In der Praxis ist das zwar ganz und gar nicht einfach, aber vom Prinzip her schon. Somit ergibt sich folgende Situation in der neuen Debatte um die Quantentheorie:

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• Viele Physiker ringen um die richtige oder nützlichste Interpretation oder Vervollständigung, um das Messproblem zu lösen: Das ist die Arena beispielsweise für die Bohm’sche Mechanik, die Viele-Welten- und die Viele-Historien-Interpretation.

• Andere Forscher modifizieren die Quantentheorie. Dazu zählen insbesondere die Theorien von der Spontanen Lokalisation.

• Manche Wissenschaftler haben noch kühnere Ambitionen und versuchen die Fundamente gleichsam tiefer zu legen: Ihnen zufolge ist die Quantentheorie nur eine näherungsweise gültige effektive Theorie, die einer fundamentaleren Platz machen wird (siehe Kasten „Hilfe durch die Quantengravitation?”).

In Bielefeld prallten die unterschiedlichen Gemüter mitunter heftig aufeinander. „Wovon handelt Ihre Theorie?”, hatte gleich zu Beginn Konferenz-Mitveranstalter Detlef Dürr mit großen Buchstaben an eine Tafel geschrieben. Später hatte jemand ergänzt: „Auf Grund welcher theoretischen oder experimentellen Resultate würden Sie Ihre Theorie aufgeben?” und „Worin bestehen die beobachtbaren Unterschiede zur gewöhnlichen Quantenmechanik?” Immerhin: In allen diskutierten Ansätzen geht es darum, die subjektivistische Lehrbuch-Quantentheorie durch einen objektiveren Ansatz zu ersetzen, der sich auf die Natur und nicht die Erfahrungen von ihr bezieht, so wie Einstein es wollte (siehe Beitrag „Einsteins Mond und Schrödingers Katze”). Im Folgenden werden die drei wichtigsten Ansätze vorgestellt.

Bohm’sche Mechanik

Dass die Wellenfunktion keine vollständige Beschreibung der Quantenobjekte sei, hielt schon Albert Einstein für die „ offensichtlichste Interpretation”. „Ich bin … fest davon überzeugt, dass der grundsätzlich statistische Charakter der gegenwärtigen Quantentheorie einfach dem Umstand zuzuschreiben ist, dass diese mit einer unvollständigen Beschreibung der physikalischen Systeme operiert”, schrieb Einstein noch 1955, kurz vor seinem Tod, und war sicher, dass „eine quantenmechanische Beschreibung als die Beschreibung von Systemgesamtheiten … die Entwicklung der theoretischen Physik sein wird; aber der Weg wird langwierig und beschwerlich sein.”

Tatsächlich hatte drei Jahre zuvor ein junger Physiker schon einen solchen Weg gewiesen. 1952 schlug David Bohm seine „kausale Interpretation” der Quantentheorie vor. Sie leugnet zwar die „ spukhaften Fernwirkungen” nicht, war aber ansonsten ganz in Einsteins Sinn. Denn sie benötigt keinen absoluten Zufall – keinen würfelnden Gott –, sondern ist deterministisch und versucht die orthodoxe Quantentheorie gleichsam mit der Annahme einer tieferen Realitätsschicht, in der sich die Teilchen bewegen, zu vervollständigen. Diese von der Wellenfunktion abgeleitete „Schicht”, die als verborgener Parameter das Verhalten der Teilchen exakt festlegt, hat Bohm in Form eines Quantenpotenzials in die Theorie eingeführt.

Heute favorisieren die Quantenphysiker eine alternative, letztlich aber äquivalente Darstellung in Form eines so genannten Führungsfelds. (Für Experten: Die Führungsfeld-Gleichung ist eine Differenzialgleichung erster Ordnung für die Bewegung der Teilchen, das Quantenpotenzial erscheint als eine dem Newton’s chen Gravitationspotenzial analoge Kraft in einer Gleichung zweiter Ordnung.) Das Führungsfeld lässt sich ebenfalls aus Schrödingers Wellenfunktion ableiten und kann als Bewegungsgleichung für Ort und Geschwindigkeit der Teilchen verwendet werden. „Die Teilchen laufen entlang von Bahnen, wobei ihre Bewegung von einer Welle bestimmt wird: Ähnlich wie Wellenreiter auf einer Wasserwelle werden sie von der Schrödinger’ schen Wellenfunktion geführt”, erläutert Detlef Dürr von der Universität München, der zu den führenden Vertretern der inzwischen so genannten Bohm’schen Mechanik zählt.

Die Idee eines Führungsfeldes geht auf Einstein zurück, der – noch vor der Entwicklung der Quantentheorie – damit im Rahmen des Elektromagnetismus eine Erklärung des Interferenzphänomens von Photonen versucht hat, und auf die Pilotwellen-Theorie des Nobelpreisträgers Louis de Broglie von 1927, der sie aber nicht weiter verfolgt hat. Bei Bohm komplettiert das Führungsfeld die Quantentheorie, weil die Wellenfunktion keine vollständige Beschreibung zu liefern vermag.

Im Licht der Bohm’schen Mechanik gibt es letztlich keine Wellen in der Natur, nur Teilchen und das verborgene Führungsfeld. Der von Niels Bohr beschworene Wellen-Teilchen-Dualismus ist also überwunden. Die Wellen-Erscheinungen basieren auf den Teilchen – und sind nur eine Folge der „komischen Bahnen” (Dürr), die das Führungsfeld den Teilchen auferlegt. Dadurch entstehen die Interferenz-Erscheinungen, etwa beim Doppelspalt-Versuch. Dort laufen die Teilchen tatsächlich jeweils nur durch einen Spalt, aber eben nicht auf den klassischen Bahnen gemäß Newtons Gesetzen – bloß die Führungswelle passiert beide Spalte.

Auch dem Messproblem zieht die Bohm’sche Mechanik den Stachel. In ihr gibt es keine Überlagerungen makroskopischer Objekte wie toter und lebendiger Katzen. „Wenn wir wie Einstein die Beschreibung durch die Wellenfunktion als unvollständig betrachten, verschwindet das Messproblem”, sagt Sheldon Goldstein von der amerikanischen State University of New Jersey in Rutgers. Denn die Bohm’sche Mechanik „schließt zur Beschreibung des Zustands nach der Messung neben der Wellenfunktion mindestens auch noch die Werte der Variablen ein, die das Ergebnis enthalten.”

Die Nichtlokalität beanspruchte David Bohm ebenfalls zu erklären. „Das Führungsfeld sagt allen Teilchen zugleich, wie sie sich bewegen müssen”, erläutert Dürr. Bohm meinte, dass zwei uns als getrennt erscheinende quantenmechanische Objekte in Wirklichkeit nur Manifestationen eines verknüpften Ganzen sein könnten. Bei den EPR-Korrelationen gäbe es im Raum demnach nur eine „ungeteilte Einheit”, auch wenn sie als zwei getrennte Objekte erscheinen. Bohm sprach von einer „unteilbaren Ganzheit” – vergleichbar mit einem Hologramm.

Die Bohm’sche Mechanik lässt die Quantentheorie in neuem Licht erscheinen. „Analog dazu, wie sich die Thermodynamik als effektive Theorie aus der kinetischen Gastheorie und der Newton’s chen Mechanik ableiten lässt, kann man die Quantenmechanik als eine phänomenologische Theorie der Bohm’schen Mechanik betrachten” , sagt Detlef Dürr. Sie ist in gewisser Hinsicht fundamentaler als die von Niels Bohr geprägte Kopenhagener Deutung der Quantenphysik, die – mit den Worten Roderich Tumulkas von der Universität Genua – keine wissenschaftlichen Vorhersagen macht, sondern die Vorhersage ist. Insofern entspricht die Bohm’sche Mechanik genau der Vorstellung Einsteins, der davon überzeugt war, dass verglichen mit der kompletten Theorie „die statistische Quantentheorie ungefähr eine analoge Stellung” haben würde „wie die statistische Mechanik zur klassischen Mechanik.”

„Die Bohm’sche Mechanik macht die Nichtlokalität der Quantentheorie deutlich und kann alle Phänomene beschreiben – von den Spektrallinien über die Streuungen bis zur Supraleitung, dem Qanten-Hall-Effekt und dem Quantencomputer”, sagt Sheldon Goldstein. „In manchen Hinsichten ist die Bohm’sche Mechanik sogar einfacher, etwa bei der Beschreibung von Tunnelvorgängen, der Streutheorie oder des Quantenchaos.”

Trotz ihrer – relativen – Einfachheit und Überschaubarkeit begegnen der Bohm’schen Mechanik noch immer viele Physiker reserviert und skeptisch. Das hat zum einen menschliche Gründe (siehe „Bohms Bann”). Weitere Schwierigkeiten sind philosophischer und physikalischer Natur.

• Das Führungsfeld passt konzeptuell nicht gut in die dominierenden physikalischen Vorstellungen. Mit ihm lässt sich zwar das Verhalten der Teilchen gut erklären – und insofern mag dieses als Wirkung auf die Existenz des Führungsfelds als ansonsten verborgenen Parameter hindeuten. Aber es wird nicht selbst von den Teilchen beeinflusst. Das auf Newton zurückgehende Prinzip von Aktion und Reaktion trifft hier also nicht zu. „ Dessen universelle Gültigkeit kann man aber weder begründen noch darf man es einfach von vornherein voraussetzen oder fordern”, verteidigt Dürr David Bohm. „In der Physik vor Newton, etwa bei Aristoteles, war dieses Prinzip ja auch nicht enthalten.”

• Die von den Quantenfeldtheorien beschriebene und auch experimentell bestätigte zufällige Erzeugung von Teilchen und Antiteilchen aus Energie und deren gegenseitige Vernichtung kann die Bohm’sche Mechanik nicht erfassen. „Das ändert sich jetzt”, entgegnet Dürr jedoch, der mit einigen Kollegen gerade eine Arbeit in den renommierten „Physical Review Letters” untergebracht hat. Darin wird beschrieben, wie sich das Führungsfeld in verschiedene Einzelfelder aufspalten könnte, die dann die Paarvernichtung und -erzeugung repräsentieren würden. Dabei ist allerdings ein Element des Zufalls nötig, den die Wellenfunktion erzeugt. Kritiker halten dies nicht nur für „ad hoc” – also einen willkürlichen, ungerechtfertigten Zusatz –, sondern meinen auch, damit würde der Teufel gleichsam mit dem Beelzebub ausgetrieben. Denn der Vorteil der Bohm’schen Mechanik war ja gerade, den von Einstein verabscheuten Zufall nicht zu benötigen, sondern alles vom Führungsfeld determinieren zu lassen. „Unsere Arbeit ist bestimmt nicht das letzte Wort in dieser Sache”, räumt denn auch Dürr ein. „Letztlich könnte die Theorie schon deterministisch sein.”

• Die Bohm’sche Mechanik ist nicht „lorentzinvariant”. Das heißt: Sie ist nicht vereinbar mit der Speziellen Relativitätstheorie. Denn die Nichtlokalität, die eine Art absolute Gleichzeitigkeit fordert, widerspricht der Relativität, die diese Simultaneität gerade negiert. Dieses Problem gilt freilich für alle konkurrierenden Quantentheorien oder deren Interpretationen. „Das kann also keine Kritik sein und kein Grund zum Zweifel”, sagt Dürr, „sondern es gehört zu unserem Beruf, das Problem anzugehen. Immerhin macht die Bohm’sche Mechanik die Schwierigkeit einer relativistischen Quantentheorie deutlich. Jetzt ist klar, was die Frage ist. Man kann nicht länger einfach nur etwas zu den Gleichungen murmeln.” Auch John Bell sah die Schwierigkeit und bezeichnete sie – im Gegensatz zum Messproblem – als „das wirkliche Problem der Quantenmechanik”. Immerhin gibt es wenigstens ein paar Ideen, wie man die Quantenphysik lorentzinvariant machen könnte. Dürr: „Dabei werden wir aber wohl nicht umhin kommen, eine Extra-Struktur in der Raumzeit für die Bohm’sche Mechanik einzuführen.”

Viele GEschichten

Eine andere Interpretation der Quantenmechanik hat der amerikanische Physiker Hugh Everett III 1957 vorgeschlagen. Sie kommt ganz ohne verborgene Variablen und den Kollaps der Wellenfunktion aus, hat aber – zumindest in der gängigen Version – eine viel radikalere Konsequenz: Das Universum als Ganzes ist eine Überlagerung aller Möglichkeiten. Immer, wenn sich Alternativen auftun, spaltet sich das Universum auf – beispielsweise in einen Strang, in dem Schrödingers Katze tot ist, und in einen anderen, in dem sie weiterlebt.

Obwohl diese Viele-Welten-Interpretation außerordentlich bizarr – und geradezu verschwenderisch – ist, sympathisieren renommierte Physiker wie John Wheeler und David Deutsch mit ihr, weil auch sie einen objektivistischen Ausweg aus dem Subjektivismus von Bohr & Co bietet. Und weil sie es erlaubt, Quantenkosmologie zu betreiben – eine quantenphysikalische Beschreibung des Universums als Ganzes, das ja per definitionem nicht von außen gemessen werden kann. „Wir müssen die Quantenmechanik in der Quantenkosmologie besser verstehen, wo es keinen Beobachter außerhalb geben kann”, betont auch der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg von der University of Texas in Austin.

Dasselbe Ziel hat James Hartle, der durch seine Zusammenarbeit mit dem britischen Physiker Stephen Hawking bekannt wurde, mit dem er eine Erklärung des Urknalls vorgeschlagen hat (bild der wissenschaft 5/2002, „Hawking & Co.”). Mit dem Nobelpreisträger Murray Gell-Mann, der heute am Santa-Fe-Institut in New Mexico arbeitet und durch das Quark-Modell der Materie berühmt wurde (bild der wissenschaft 5/2003, „Der Universalgelehrte”), hat Hartle seit 1986 eine Viele-Historien-Interpretation der Quantentheorie entwickelt, auch Konsistente-Historien- oder Dekohärente-Historien-Interpretation genannt. Dieselbe Idee haben unabhängig von ihnen Robert Griffiths von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh sowie Roland Omnès von der Université de Paris-Sud in Orsay ausgearbeitet.

Es handelt sich um einen minimalistischen Zugang, der für viele Physiker den Vorteil hat, dass er der Kopenhagener Deutung relativ nahe steht und somit ein geringeres Umdenken erfordert als etwa die Bohm’sche Mechanik – obwohl sich diese Hartle zufolge sogar als Spezialfall unter einer geeigneten Formulierung der Vielen Historien subsummieren ließe.

Die Kopenhagener Deutung „ist viel zu speziell, als dass sie heute als die fundamentale Beschreibung anerkannt werden könnte”, kritisiert Gell-Mann. „Allgemein betrachtet, muss sie nicht nur als Sonderfall, sondern auch als Näherung gelten.” Stattdessen sollte die Quantentheorie von Historien oder Geschichten handeln. „Unser Ansatz handelt von den Wahrscheinlichkeiten alternativer Historien des Universums. Historien sind Sequenzen von Dingen in der Zeit”, erläutert Hartle. „Es gibt jede Menge alternativer Historien, zum Beispiel alternative Bahnen der Erde um die Sonne. Sie haben verschiedene Wahrscheinlichkeiten, die die Quantenmechanik zu berechnen ermöglicht.” Dabei wird der Quantenformalismus des Messprozesses zu einer Theorie über die Verläufe objektiver Ereignisse verändert – einschließlich derer, die wir mit Messungen verbinden. Aber eben nicht nur dieser. „Die Kopenhagen-Quantenmechanik ist im Ansatz der Konsistenten Historien enthalten – als eine Näherung für Situationen mit Messungen”, sagt Hartle. Real ist also nicht die Wellenfunktion – real sind die objektiven Geschichten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, ähnlich wie es Einstein vorschwebte. Allerdings ist der Zufall nicht eliminiert, sondern steckt in der Statistik.

Gell-Mann und Hartle unterscheiden zwischen fein- und grobkörnigen Historien. Erstere sind Beschreibungen auf Quantenniveau, für die meisten Zwecke jedoch viel zu genau beziehungsweise gar nicht leistbar. Grobkörnige Historien hingegen sind Äquivalenzklassen vieler feinkörniger Geschichten. Im Allgemeinen sind bei ihnen die Interferenzen „ausgewaschen”, weil die Wechselwirkung eines Quantensystems mit der Umwelt Schrödingers Wellenfunktion – lokal – zum Kollabieren bringt. Deshalb sehen wir keine lebendig-toten Katzengemische. „Kein wirkliches quasi-klassisches Objekt kann ein solches Verhalten zeigen, weil die Wechselwirkung mit dem übrigen Universum zur Dekohärenz der Alternativen führt”, erklärt Gell-Mann.

„Wenn wir einen Tisch beschreiben, beziehen wir uns oft nur auf seine Ausdehnung, seine Masse und so weiter. Diese Beschreibung ist grobkörnig, weil sie nicht den Ort aller Moleküle des Tisches erfasst, sondern nur einige durchschnittliche Eigenschaften”, gibt Hartle ein Beispiel. „Alle nicht berücksichtigten Freiheitsgrade konstituieren eine Umwelt. Diese muss nicht außerhalb liegen, sie kann auch im Inneren sein. In der Quantentheorie muss man einige Freiheitsgrade ignorieren, um Aussagen über andere zu machen. Das ist die Essenz der Dekohärenz.”

• Das wirft freilich gleich das erste Problem auf: Den meisten Physikern zufolge verschiebt der Dekohärenz-Mechanismus das Interferenz-Problem nämlich nur. Zwar zerstören schon die Photonen der Kosmischen Hintergrundstrahlung die verschmierten Quantenzustände rasch, wenn diese nicht beispielsweise im Labor extrem gut abgeschirmt sind – doch das Universum als Ganzes bleibt nach wie vor in der Superposition.

• Damit stellt sich auch die Frage, ob die verschiedenen Historien gleichermaßen real sind – ähnlich wie in der Viele-Welten-Interpretation. „Man kann diese Aussage hinzufügen oder weglassen”, antwortet Hartle. „Es hängt davon ab, was man unter ,real‘ versteht. Die Annahme beeinflusst nicht die Vorhersagekraft der Theorie. Daher füge ich die Aussage lieber nicht hinzu, das vereinfacht die Diskussion.” Und weiter: „Es wird nicht eine einzigartige Historie vorhergesagt, sondern eine Familie von Historien mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten. Die Quantentheorie unterscheidet also nicht zwischen den unterschiedlichen möglichen Historien außer hinsichtlich deren Wahrscheinlichkeit.” Dürr ist damit aber nicht zufrieden. „Die Viele-Historien-Interpretation macht viele Worte, bleibt aber unklar”, bemängelt er. „Sie ist zu nah an Kopenhagen und muss überwunden werden.” Die Vielen Historien seien nicht wohldefiniert. Darauf hat auch Fay Dowker vom Perimeter-Institut in Kanada hingewiesen. Weitere Bedingungen seien nötig, um die Klasse der dekohärenten Familien einzuschränken. Hartle entgegnet: „Es gibt weder innere Widersprüche noch solche mit den Experimenten. Man mag mehr fordern – etwa eine Spezifikation, welche der vielen Möglichkeiten wirklich geschieht. Die Konsistente-Historien-Interpretation tut dies nicht, weil es viele unvereinbare Mengen von Geschichten in der Quanten-Realität gibt. Es wäre interessant, wenn es konkurrierende Theorien gäbe. Aber unser Ansatz ist allgemein genug, um einen Rahmen für die moderne Physik zu liefern, Stringtheorie und Kosmologie eingeschlossen. Die dürfen wir nicht aufschieben, bis vielleicht einmal eine Formulierung der Quantentheorie existiert, die theoretische Vorurteile besser befriedigt. Wie schon Theodore Roosevelt sagte: Man muss tun, was man kann, mit dem, was man hat und wo man ist.”

• Außerdem stellt sich die Frage nach der Eindeutigkeit der Vergangenheit. „In der Quantenphysik gibt es viele andere, miteinander unvereinbare Vergangenheiten”, meint Hartle. Könnte eine tote Katze also vor fünf Minuten tot und gleichzeitig, in einer anderen Historie, lebendig gewesen sein? Zumindest gibt es für beide Alternativen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit. Die Möglichkeit einer unbestimmten Vergangenheit ist für viele allerdings schwer zu schlucken. „Das wäre ein totales Desaster”, sagt Tim Maudlin, Philosophie-Professor an der Rutgers University in New Brunswick. Lee Smolin vom Perimeter-Institut in Kanada widerspricht: „Es wäre eine tiefgründige Entdeckung.”

Spontane Lokalisation

Ein völlig anderer Ansatz zur Lösung der Quanten-Paradoxien begann sich in den siebziger Jahren abzuzeichnen. Damals suchten Philip Pearle und unabhängig von ihm GianCarlo Ghirardi, Alberto Rimini, und Tullio Weber nach Möglichkeiten, die Schrödinger-Gleichung selbst zu verändern – und zwar so, dass alle bekannten Quantenphänomene trotzdem erklärt werden können. In den achtziger Jahren begann das Projekt Erfolge zu zeigen, und die Dynamischen Reduktionsmodelle entstanden, auch GRW-Modelle (nach den Anfangsbuchstaben der drei Forscher) oder Kontinuierliche Spontane Lokalisation genannt.

Die Grundidee dabei ist, die Entwicklung der Wellenfunktion mit einem spontanen, zufälligen Kollaps zu verbinden, der von der modifizierten, nun nichtlinearen Schrödinger-Gleichung determiniert wird. „Die Katze ist nicht mehr als einen Sekundenbruchteil zugleich lebendig oder tot”, sagt Ghirardi vom Nationalen Institut für Nuklearphysik in Triest. Zusammen mit seinem Mitarbeiter Angelo Bassi und mit Alberto Rimini warb er in Bielefeld eloquent für diese Hypothese. Der Kollaps der Wellenfunktion in der Kopenhagener Deutung sei „eine physikalisch unannehmbare Situation, der man begegnen muss”.

Der universelle objektive Kollaps ist unabhängig von der Dekohärenz. Er ist nicht umkehrbar, konstituiert also eine Zeitrichtung, und erfolgt im GRW-Modell augenblicklich. Er benötigt aber Zeit, um sich zwischen den Beobachtern auszubreiten.

Im Gegensatz zur Bohm’schen Mechanik gibt es im Weltbild der Spontanen Lokalisation streng genommen keine Teilchen, sondern sich ausbreitende mikroskopische Materiewellen-Pakete, wie sie die Schrödinger-Gleichung beschreibt. Die „Unschärfen” der Materiewellen dehnen sich allerdings viel langsamer aus als bei der Schrödinger-Gleichung. Daher kann es keine makroskopischen Superpositionseffekte – und somit Zwitterkatzen – geben, denn die Kollaps-Prozesse erfolgen in Sekundenbruchteilen (einer Version des Modells zufolge alle 10–8 Sekunden). Physikalisch real sind deshalb nicht Teilchen, sondern Materiewellen oder Massendichten an Raumzeitpunkten.

So vielversprechend sich das alles anhören mag – das letzte Wort ist damit noch lange nicht gesprochen.

• Die Spontane Lokalisation hat einen in der Praxis zwar irrelevanten, vom Prinzip her jedoch fragwürdigen Nebeneffekt: Sie verletzt den Energieerhaltungssatz. Freilich ist der Effekt unmessbar klein: „Der Kollaps der Gas-Atome im Wohnzimmer würde die Temperatur um 10–15 Grad pro Jahr ansteigen lassen”, sagt Angelo Bassi. „Denn die Spontane Lokalisation versetzt der Wellenfunktion gleichsam immer wieder einen Tritt.”

• Die Modelle der Spontanen Lokalisation erfordern keine verborgenen Variablen, sind also vollständige Quantentheorien. Allerdings sind sie wie die gewöhnliche Quantenphysik nichtlokal und enthalten einen absoluten, nicht weiter erklärbaren Zufall. Er bringt die Wellenfunktion immer wieder zum Kollabieren. „Die Natur muss zu zufälligen Zeitpunkten einen Sprung ausführen; außerdem muss per Zufall entschieden werden, wohin überhaupt gesprungen wird”, kommentiert Roderich Tumulka. „Dieser Vorstellung zufolge muss Gott nicht nur würfeln: Es kommt sogar darauf an, dass er zum richtigen Zeitpunkt würfelt und nicht etwa nur den Anfangszustand beim Urknall festlegt.”

• Die Modelle der Spontanen Lokalisation sind raffiniert, erscheinen aber auch etwas willkürlich – fast wie zurechtgeschneidert, um die Quanten-Paradoxien zu lösen. Trotzdem genießen sie in den Fachkreisen großen Respekt. „Ich sehe das GRW-Modell als nette Illustration an, wie die Quantenmechanik nur eine kleine Veränderung erforderlich macht, um rational verständlich zu werden”, lobte John Bell. „Dass es funktioniert, ist erstaunlich – die Modelle sind nicht bloß zusammengestöpselt” , sagt Detlef Dürr anerkennend. „Auch wenn die Theorie falsch wäre, ist sie genial.” Ghirardi und Bassi räumen durchaus ein, dass die bisher ausgearbeitete Fassung „noch immer einen phänomenologischen Charakter hat und weitere harte Arbeit nötig macht, bevor sie als fundamentale Theorie natürlicher Prozesse akzeptiert werden kann”.

Die Spontane Lokalisation stellt nicht einfach eine weitere Interpretation der Quantentheorie dar, sondern eine neue, rivalisierende Theorie. Sie enthält mindestens eine neue Naturkonstante. Sie macht teilweise andere Voraussagen und ist also überprüfbar. Es wird sehr schwierig sein, experimentell zwischen ihr und der gewöhnlichen Quantentheorie zu unterscheiden, ist aber prinzipiell möglich: Ließe sich mit raffinierten Tricks beispielsweise die Dekohärenz eines Quantensystems abschirmen – deren Effekte die Spontane Lokalisation um viele Größenordnungen übertreffen und somit maskieren –, und gelänge es, makroskopische Objekte wie einen Tennisball zur Interferenz zu bringen, dann wären alle GRW-Modelle widerlegt.

„Vorhersagen sind schwierig – insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen”, kalauerte einst Niels Bohr. Selbst seine wissenschaftlichen Kontrahenten würden ihm hier nicht widersprechen. Niemand weiß, wie die Quantentheorie der Zukunft aussehen wird.

Fest steht immerhin: Die Unzufriedenheit mit der herkömmlichen Interpretation hat eine kritische Schwelle überschritten. Und: Es gibt inzwischen mehrere gut ausgearbeitete Alternativen, die zusammen mit der sich rasch entwickelnden Experimentierkunst vielleicht schon bald einen Paradigmenwechsel in der Physik auslösen könnten. Dem Wickelkind-Stadium ist die Quantenphysik längst entwachsen. Sie hat inzwischen die Pubertät erreicht – und da sind Konflikte und Orientierungsprobleme bekanntlich unvermeidbar. Rüdiger Vaas■

Ohne Titel

David Bohm (1917–1992) gehört zu jenen Physikern, die den Nobelpreis verdient, aber nicht erhalten haben. Das lag auch an persönlichen Anfeindungen und einem tragischen Lebenslauf. Weil Bohm sich in den fünfziger Jahren ernsthaft mit kommunistischen Ideen beschäftigte, nahm ihm die hysterische McCarthy-USA den Pass ab, so dass er sich gezwungen sah, aus dem Land zu fliehen. Deswegen und auf Grund vehementer und oft unfairer Kritiken renommierter Physiker-Kollegen wie Wolfgang Pauli und Robert Oppenheim („wenn wir Bohm nicht widerlegen können, müssen wir ihn ignorieren”) geriet Bohms Arbeit in Misskredit. Selbst vor einigen Jahren in Deutschland wurden Forschungsanträge zur Bohm’s chen Mechanik noch abgelehnt oder gar bekämpft. Auch Bohms ans Esoterische grenzende Spekulationen über eine „implizite Ordnung” in den siebziger und achtziger Jahren sowie sein enger Kontakt mit dem indischen Guru Krishnamurti wurden ihm übel ausgelegt. Zudem waren die Artikel von 1952 wegen des Quantenpotenzials teils etwas obskur formuliert – selbst Bohm fand es „ziemlich seltsam und arbiträr”. Aber man könne dies ignorieren, empfiehlt Detlef Dürr, „denn es verzerrt den wahren Kern der Bohm’schen Mechanik – insofern sind wir heute weiter.”

Bohm war nach der Flucht aus den USA 1951 bis 1955 Professor in São Paulo, Brasilien, lebte dann in Israel, wo er mit seinem Studenten Yakir Aharonov 1959 den „Aharonov-Bohm-Effekt” entdeckte, und forschte ab 1961 am Birkbeck College in London. Unter der fehlenden Anerkennung litt er bis zu seinem Tod.

Die Bedeutung von Bohms Arbeit wurde drei Jahrzehnte lang hauptsächlich von John Bell verteidigt. Der Physiker am Kernforschungszentrum CERN, der 1990 starb, war ein kluger Kritiker der orthodoxen Quanten-Interpretation und verfasste 1964 die entscheidende theoretische Arbeit zur – deshalb dann auch experimentell nachweisbaren – Nichtlokalität in der Quantenphysik.

Ohne Titel

„Es erscheint mir offensichtlich, dass wir die grundlegenden Gesetze der Quantenmechanik noch nicht kennen. Die heute verwendeten Gesetze müssen alle noch wesentlich modifiziert werden, bevor wir zu einer relativistischen Theorie vorstoßen werden”, sagte der Physik-Nobelpreisträger Paul Dirac in einer Vorlesung hellsichtig schon 1974.

Eine allgemeinrelativistische Quantentheorie ist bis heute ein großes Ziel – sowohl heiß begehrt als auch heftig umstritten (bild der wissenschaft 4/2004, „Das Duell: Strings gegen Schleifen”). Viele prominente Wissenschaftler erhoffen sich mit einer solchen Theorie der Quantengravitation nicht nur die Lösung der Rätsel des Urknalls und der Schwarzen Löcher, sondern auch die Überwindung der Quanten-Paradoxien.

So könnte die Kopplung von Raumzeit und Materie dazu führen, dass die Raumzeit stets klassisch erscheint, überlegt beispielsweise der Physiker Erich Joos. Und Roger Penrose, Mathematiker an der Oxford University, glaubt, eine künftige Theorie der Quantengravitation werde einen objektiven, bewusstseinsunabhängigen Kollaps der Wellenfunktion erklären.

Vielleicht lässt sich die Quantentheorie auch auf ein tieferes Fundament stellen und wäre dann nur eine Art statistisches Oberflächen-Phänomen – Überlegungen, wie sie etwa Stephen Adler vom Institute for Advanced Study in Princeton und, auf andere Weise, der Nobelpreisträger Gerard ‘t Hooft von der Universität Utrecht verfolgen. Eine quantengravitative Basis könnte sogar als Hort verborgener Parameter fungieren, die die Quantentheorie dann gleichsam erst „aufbauen” würden. Einen kühnen und eleganten Vorschlag in dieser Richtung haben Fotini Markopoulou und Lee Smolin vom kanadischen Perimeter- Institut Anfang des Jahres auf der Quantentheorie-Konferenz in Bielefeld vorgestellt. Danach ist nicht einmal die Raumzeit fundamental, sondern besteht aus einem geometrischen Gewebe (bild der wissenschaft 12/2003, „Jenseits von Raum und Zeit”). Dies könnte sogar die Nichtlokalität auf eine – extrem winzige – Lokalität zurückführen und vielleicht sogar den Quanten-Zufall ausschalten. Hier schießen freilich noch viele Spekulationen ins Kraut – doch wer weiß, auf welche tragfähigen quantengravitativen Wurzeln sie sich bald gründen werden. RV

Ohne Titel

· Frischer Wind in der Quantenphysik: In der Bohm’schen Mechanik gibt es keine Wellen, sondern nur Teilchen und ein alles regierendes, überall zugleich wirkendes Führungsfeld.

· Die Viele-Historien-Interpretation zeichnet das Bild zahlloser alternativer Geschichten mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, die die Quantentheorie berechnen kann.

· Am radikalsten ist die Theorie von der Spontanen Lokalisation: Sie ändert die quantenmechanische Grundgleichung.

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