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Ist uns das All auf den Leib geschneidert?

Astronomie|Physik

Ist uns das All auf den Leib geschneidert?
Ist das Universum, in dem wir leben, nur eines unter vielen – oder ein Designer-Produkt, womöglich von kosmischen Ingenieuren in einem Labor kreiert?

„Jede Koinzidenz ist es wert, bemerkt zu werden. Man kann sie ja später verwerfen, wenn es nicht mehr als eine Koinzidenz ist“, hat die britische Krimi-Autorin Agatha Christie einmal ihre pfiffige Protagonistin Miss Marple sagen lassen. Das bringt das Problem auf den Punkt: Koinzidenzen – also gemeinsam vorkommende Tatsachen, Ereignisse und so weiter – könnten bloßer Zufall sein. Sie könnten aber auch echte, tiefere Zusammenhänge anzeigen – dass beispielsweise eines das andere bedingt oder beide eine gemeinsame Ursache haben.

Mit genau diesen Schwierigkeiten quälen sich zur Zeit viele Theoretische Physiker, aber auch Philosophen und sogar Theologen. Die von ihnen bemerkten – kosmischen – Koinzidenzen weisen eine verblüffende „Feinabstimmung“ der Naturkonstanten zugunsten unserer Existenz auf. Die Entwicklung in der Teilchenphysik und Kosmologie sowie in anderen Wissenschaften hat in den letzten Jahrzehnten zu einer erstaunlichen Entdeckung geführt: Die Tatsache der menschlichen Existenz beruht nicht nur auf lokalen, sondern auch auf ganz bestimmten globalen Bedingungen – sehr spezifischen Werten der Naturkonstanten, der Eigenschaften von Elementarteilchen und Naturkräften und so weiter. Wären sie nur geringfügig anders, als sie tatsächlich sind, gäbe es keine Sterne, keine Planeten und keine Lebewesen – und somit auch keine Wissenschaftler, die über dieses Rätsel nachdenken könnten (siehe „Ein lebensfreundliches Universum“ und „Die Sterne sind unser Schicksal“).

Physiker und Kosmologen sprechen daher metaphorisch von Feinabstimmungen – in Analogie zur exakt justierten Sendereinstellung beim Radioempfang oder zum Konzertflügel, wo rund 220 Saiten sehr genau aufeinander abgestimmt sein müssen, um harmonische Klänge zu erzeugen. Gebräuchlich für diesen Zusammenhang globaler physikalischer Werte mit intelligenten bewussten Lebensformen, die sie erkennen, ist auch die Bezeichnung „anthropische oder kosmische Koinzidenzen“. Am weitesten verbreitet hat sich jedoch – trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Missverständlichkeit – der Begriff „ Anthropisches Prinzip“. Das Universum wäre also wüst und leer, wenn es die kosmischen Koinzidenzen nicht gäbe. Deshalb suchen die Forscher wie Miss Marple mit detektivischem Spürsinn und viel Fantasie nach einer Erklärung für diese merkwürdig lebensfreundlichen Rahmenbedingungen – denn an einen bloßen Zufall wollen sie nicht glauben.

„Wir wissen, dass die Oase der Werte der Naturkonstanten, die unser Leben ermöglichen, von einer Wüste von Werten umgeben ist, die eben dies nicht tun“, sagt Henning Genz, emeritierter Professor für Theoretische Physik an der Universität Karlsruhe. Selbstverständlich ist es möglich, dass sich für diese Oase nicht nur keine Erklärung finden lässt, sondern dass überhaupt keine existiert. Unser Universum könnte mit all seinen Eigenschaften ein gigantischer, wahrhaft kosmischer Zufall sein. Aber eine solche Annahme sollte nicht am Anfang der Forschung stehen, denn sie wäre damit sofort am Ende. Vielmehr müssen Erklärungen gesucht und getestet werden. Das war in der Vergangenheit immer eine erfolgreiche Maxime der Wissenschaft – auch Miss Marple hätte sich nicht damit zufrieden gegeben, einen „Zufall“ zu akzeptieren.

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Tatsächlich gibt es diverse Erklärungsansätze – Verdachtsmomente für die kosmischen Kommissare:

• Ableitung aus fundamentaleren Theorien und Prinzipien: Dies ist das übliche, bewährte und aussichtsreichste wissenschaftliche Vorgehen.

• Ensemble-Erklärung: Es existieren andere Universen mit anderen Bedingungen, die entweder gleich häufig sind oder eine spezifische Wahrscheinlichkeitsverteilung haben, welche eventuell mit einer fundamentaleren Theorie erklärbar ist.

• Teleologische Interpretation: Es gibt zielgerichtete Kräfte, die die Feinabstimmungen aufgrund einer der Natur innewohnenden Zweckmäßigkeit angestrebt oder gar bewusst geplant haben.

Es ist nicht einmal prinzipiell ausgeschlossen, dass zwei oder alle drei Ansätze möglich oder nötig sind, denn die damit verbundenen Voraussetzungen lassen sich logisch vereinbaren. Beispielsweise könnte es viele unterschiedliche Universen geben, die sich mit einer umfassenden physikalischen Theorie beschreiben lassen, und die trotzdem gezielt von einem Gott erschaffen wurden, dessen Intentionen und Existenz aber nicht weiter erklärbar sind – nicht einmal von ihm selbst.

Eine ultimative Erklärung für die Werte der Naturkonstanten und somit auch für die überraschenden Feinabstimmungen könnte eine „Weltformel“ geben – eine fundamentale physikalische Theorie, wie sie schon Albert Einstein die letzten Jahrzehnte seines Lebens gesucht hat, freilich vergebens. Heute firmiert sie unter Namen wie „Quantengravitation“, „String-“ oder „M-Theorie“, „Quantengeometrie“ und etwas unbescheiden sogar „Theorie von Allem“.

Das Credo dieses Ansatzes hat Einstein 1945 in einem Brief an seine ehemalige Studentin Ilse Rosenthal-Schneider formuliert: „ Eine Theorie, die in ihren Grundgleichungen explizit eine nicht rationelle [mathematisch ableitbare] Konstante enthält, müsste irgendwie aus logisch voneinander unabhängigen Brocken zusammengefügt sein; ich vertraue aber darauf, dass diese Welt nicht so ist, dass man zu ihrer theoretischen Erfassung einer so hässlichen Konstruktion bedarf.“

Auch der britische Astrophysiker Arthur Eddington war dieser Auffassung und mutmaßte 1939 sogar: „Nicht nur die Naturgesetze, sondern auch die Naturkonstanten lassen sich von erkenntnistheoretischen Betrachtungen ableiten, so dass wir sie a priori wissen können.“ Der berühmte Physiker Stephen Hawking hegt ähnliche Hoffnungen, und schon sein Doktorvater in Cambridge, Dennis Sciama, gab die Parole aus, die Forschung müsse „zeigen, dass kein Merkmal des Universums zufällig ist“.

Diesem Ansatz zufolge kann es gar keine Variationen in den Naturgesetzen, in der Art der Elementarteilchen und Kräfte, in den Werten der Konstanten und so weiter geben – und zwar unabhängig davon, ob andere Universen existieren (die dann wie unseres wären) oder nicht.

Künftige physikalische Theorien sollten die Beziehung der Naturkonstanten zueinander aufzeigen können, ähnlich wie James Clerk Maxwell bei der Vereinigung der elektrischen mit der magnetischen Kraft den Zusammenhang dreier bis dahin als unabhängig verstandenen Naturkonstanten nachgewiesen hat.

Eine bescheidenere Hoffnung ist, dass eine fundamentale Theorie – wenn schon nicht allumfassend und einzigartig – zumindest „logisch isoliert“, das heißt „so streng ist, dass man sie nicht einmal geringfügig modifizieren kann, ohne zu logischen Absurditäten zu gelangen“, überlegt der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg von der University of Texas in Austin. „In einer logisch isolierten Theorie könnte jede Naturkonstante aus ersten Prinzipien errechnet werden; eine Änderung im Wert einer Konstante würde die Konsistenz der Theorie zerstören. Die endgültige Theorie wäre wie ein Stück feines Porzellan, das man nicht verformen kann, ohne es zu zerbrechen.“ Freilich ist auch „ logische Isoliertheit“ kein Gütesiegel von vornherein. „Gerade die einfachste Theorie, dass es nichts statt etwas gibt, ist zwar logisch isoliert, aber falsch“, sagt Henning Genz.

Womöglich ist die Natur gar nicht eindeutig, sondern geradezu verschwenderisch in ihrer Vielfalt. Diese Überlegung geht auf den griechischen Philosophen Platon zurück und wird heute als „ Prinzip der Fülle“ bezeichnet. Ironischerweise könnte die Fülle die Kehrseite der Einfachheit sein – Einsteins Traum von der größtmöglichen Ökonomie, ausgedrückt in einer Weltformel, könnte mit der maximalen Verschwendung zusammenfallen.

Genau darauf deutet der momentan am meisten Erfolg versprechende Ansatz für eine Weltformel hin, die String- oder M-Theorie. Leonard Susskind von der kalifornischen Stanford University, einer ihrer Mitbegründer, schockiert seine Fachkollegen gegenwärtig mit dem Problem einer astronomisch riesigen Zahl – vielleicht 10100 oder 10500 – verschiedener „ Lösungen“ der Stringtheorie. Denn entsprechend viele Vakuumzustände könnte es geben – und dementsprechend viele Universen mit unterschiedlichen Naturkonstanten und effektiven Gesetzen.

In seinem gerade erschienenen Buch „The Cosmic Landscape“ imaginiert Susskind eine gigantische Landschaft mit verschiedenen physikalischen Eigenschaften – ein Multiversum, von dem unser Weltall nur ein winziger Teil ist. Dieses Szenario passt gut zur Vorstellung der „Kosmischen Inflation“. Dieses Modell nimmt eine vorübergehende rasante Aufblähung des Weltalls nach dem Urknall an. Dabei könnten auch ganz unterschiedliche Universen oder Teiluniversen entstehen – und dies vermutlich bis in alle Ewigkeit (bild der wissenschaft 12/2001, „Vor dem Urknall“, und 11/2005, „Inflation der Universen“). Auch andere Argumente aus Teilchenphysik und Kosmologie sprechen für die Existenz einer Vielzahl anderer Universen, für die Andrei Linde von der Stanford University schon vor über 20 Jahren stritt – und viel Kollegenschelte bekam.

Die Multiversum-Hypothese wirft auf die verblüffenden Feinabstimmungen der Naturkonstanten, die unser Universum lebensfreundlich machen, ein neues Licht: In diesem Szenario sind sie die Folge eines Beobachter-Selektionseffekts. Dieser Effekt spielt auch im täglichen Leben immer wieder eine wichtige Rolle, aber er wird leicht übersehen, wenn man die Rahmenbedingungen nicht kennt oder berücksichtigt. So lag eine Umfrage der Zeitschrift „Literary Digest“ vor der US-Präsidentenwahl 1936 peinlich weit daneben, die einen rauschenden Wahlsieg für Alf Landon voraussagte – doch Franklin D. Roosevelt gewann mit großer Mehrheit. Die Umfrage wurde repräsentativ unter Leuten gemacht, die man per Zufall aus dem Telefonbuch oder durch ihre Fahrzeug-Registrierungen ausgewählt hatte. Dadurch wurde die ärmere US-Bevölkerung, die sich kein Telefon oder Auto leisten konnte, von vornherein ausgeschlossen, also aus der Beobachtung selektiert – und die wählte überwiegend Franklin D. Roosevelt.

Dass eine Beobachter-Selektion auch für unseren Platz im All zutrifft, ist einleuchtend: Es ist nicht erstaunlich, dass wir auf einem lebensfreundlichen Planeten wie der Erde leben – auf Merkur oder Pluto wäre es schlicht viel zu heiß oder zu kalt. Ähnlich argumentieren Kosmologen mithilfe des so genannten Schwachen Anthropischen Prinzips nun auch im Hinblick aufs Multiversum: Die Natur stellt viele – oder alle möglichen – Bühnen bereit, aber unser Drama kann nur da stattfinden, wo uns die Bretter des kosmischen Theaters tragen. Und das setzt eben solche Konstanten voraus, die die Entstehung von Sternen, schweren Elementen und so weiter zulassen.

Möglicherweise wurden solche Bedingungen sogar bevorzugt. Darüber spekuliert zumindest Lee Smolin vom Perimeter-Institut für Theoretische Physik im kanadischen Waterloo. Er argumentiert für eine kosmische Evolution, derzufolge neue Universen aus dem Zentrum Schwarzer Löcher sprießen. Je mehr Schwarze Löcher ein Universum hat, desto mehr Nachkommen produziert es. Und da die physikalischen Voraussetzungen für die Entstehung Schwarzer Löcher und erdähnlichen Lebens ähnlich sind – jedenfalls bezogen auf die Sternentwicklung –, geht beides Hand in Hand (bild der wissenschaft 2/1998, „Der Bursche mit den verrückten Ideen“). Dieser „kosmische Darwinismus“, wie Smolin es nennt, basiert also auch auf der Multiversum-Hypothese, geht aber über die Beobachter-Selektion des Schwachen Anthropischen Prinzips hinaus: Die Universen konkurrieren gleichsam in ihrer Fortpflanzungsrate und selektieren dabei die Naturkonstanten – die sich Smolin zufolge bei jedem neuen Urknall geringfügig ändern können – im Hinblick auf diese Fruchtbarkeit.

Die Multiversum-Hypothese nimmt uns radikaler als alle astronomischen Erkenntnisse seit Kopernikus jegliche Sonderstellung. Diametral entgegengesetzt ist die Hypothese, dass uns das Universum gleichsam zweckdienlich auf den Leib geschneidert wurde. Die Feinabstimmungen wären damit Ausdruck einer übergeordneten „Absicht“ oder eines in der Natur selbst enthaltenen ziel- und zweckgerichteten Prinzips.

Zahlreiche Versionen eines solchen „Teleologischen Anthropischen Prinzips“ wurden inzwischen vorgeschlagen – bis hin zu einem neuen Gottesbeweis. Tatsächlich ist dieser Ansatz eine Fortsetzung der alten Naturtheologie mit wissenschaftlichem Anstrich. Die lebensfreundlichen Feinabstimmungen der Naturkonstanten werden dann geradezu in die Tradition monotheistischer Schöpfungsoffenbarungen gestellt: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk“, verkündigt das Alte Testament (Psalm 19, 2). „Gottes unsichtbares Wesen […] wird ersehen seit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken“, schreibt Paulus (Römer 1, 20). „Siehe, in der Schöpfung von Himmeln und Erde und in dem Wechsel von Nacht und Tag sind wahrlich Zeichen für die Verständigen“, heißt es im Koran (Sure 3, 190). „Intelligentes Design“, so lautet der kreationistische Tenor, wäre demnach für die Feinabstimmungen verantwortlich.

„hGc – War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?“, fragt denn auch Henning Genz mit einer Formulierung von Goethe und dem Blick auf drei fundamentale Naturkonstanten. Und betont, dass die Multiversum-Hypothese und die Suche nach einer Weltformel der gegenwärtigen Physik viel näher stehen.

Gegen alle anthropozentrischen teleologischen Ansätze lässt sich einwenden, dass sie das Problem der Überdetermination haben: Eine kosmische Lebensstätte für die Menschen wäre mit viel geringerem Aufwand zu haben. Denn für unser Dasein würde ein lokales Arrangement der Materie – unser Sonnensystem oder die Galaxis – ausreichen, das riesige, vielleicht unendlich große Weltall wäre unnötig. Tatsächlich scheint das Universum sogar viel genauer feinabgestimmt zu sein, als es für die

Existenz des irdischen Lebens sein müsste: Statt etwa 1:1010 wie für das Sonnensystem beträgt die Unwahrscheinlichkeit des Universums rund 1:1010 , hat Roger Penrose von der University of Oxford abgeschätzt.

Seit Immanuel Kants Kritik an den Gottesbeweisen sind auch viele Theologen skeptisch, was teleologische Argumente betrifft, und wehren sich dagegen, Gott auf eine Anfangsbedingung zu reduzieren oder als eine Art kosmischen Koch anzusehen, der nur die richtigen Zutaten zusammenmischt. Der persönliche Bezug zum Gläubigen mit seinen Hoffnungen und Ängsten bleibt bei einem bloßen Weltenbaumeister-Gott ja außen vor.

Hinzu kommen die seit Jahrhunderten diskutierten Probleme des Theismus, etwa die Frage, warum die Welt so viele Übel enthält, wenn sie die „bestmögliche“ eines allmächtigen und allgütigen Schöpfers sein soll. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht leidet die Design-Hypothese aber vor allem an ihrer mangelnden Erklärungskraft. „Die Rückführung der Naturordnung auf die willkürliche Entscheidung eines planenden Ordners kann man mit der Benutzung eines Taxis vergleichen: Man bemüht es eine Zeit lang, dann aber an einer bestimmten Stelle, wo es einem gefällt, verlässt man es“, kritisiert der Wissenschaftstheoretiker Bernulf Kanitscheider von der Universität Gießen. „Man bricht also die Erklärungskette dort ab, wo man nicht mehr weiter will oder nicht mehr weiter weiß, weil die innere Aktivität des höchsten Wesens letztlich unerforschlich ist.“

Falls wir in einem Designer-Universum leben, wäre das freilich keineswegs zwangsläufig eine Art Gottesbeweis. Denn unser Universum könnte auch anderweitig erschaffen worden sein: von kosmischen Ingenieuren sorgfältig konstruiert – oder gleichsam als Betriebsunfall bei einem Laborexperiment erzeugt.

Diese Vorstellung klingt nach abenteuerlicher Science-Fiction, nicht nach harter Wissenschaft. Tatsächlich hat Gregory Benford – im Hauptberuf Physik-Professor an der University of California in Irvine – genau das zum Thema seines Romans „Cosm“ gemacht. Doch die Wissenschaft ist der Science-Fiction zuvorgekommen, denn Benford ließ sich von Kollegen inspirieren, die diesen Gedanken bereits diskutiert haben – und zwar in renommierten Physik- und Astronomie-Fachzeitschriften.

Einer von ihnen ist Edward R. Harrison von der University of Massachusetts in Amherst – kein Mann, dem man Scharlatanerie oder Neigungen zum Märchenerzählen vorwerfen könnte. Von ihm stammt sogar eines der besten Kosmologie-Lehrbücher. Wie Lee Smolin vermutet auch Harrison, dass unser Universum auf Lebensfreundlichkeit hin selektiert wurde – allerdings nicht durch einen blinden Zufallsmechanismus in den Naturgesetzen, sondern durch die gezielte Planung kosmischer Ingenieure. Diese Feinabstimmung fällt Harrisons abenteuerlicher Hypothese zufolge intelligenten Lebensformen zu. Sie seien es, die die neuen Universen erzeugen und dabei deren Eigenschaften möglicherweise sogar gezielt verändern. Wir existieren dieser Argumentation zufolge, weil uns überlegene Intelligenzen in unserem Mutter-Universum die kosmische Bühne bereitet haben. Und die Feinabstimmungen sind verständlich, weil sie von uns ähnlichen, wenn auch enorm überlegenen Intelligenzen gezielt eingerichtet wurden.

Warum sie das taten – sei es aus wissenschaftlicher Neugier, um die Verbreitung von Intelligenz zu fördern, oder um vielleicht neue Lebensräume für ihre Überbevölkerung zu erschließen beziehungsweise Zufluchtsstätten zu schaffen, wenn ihr eigenes Universum zu alt und lebensfeindlich wird oder in sich zusammenstürzt –, das ist eine ganz andere Frage. Und wie diese kosmischen Ingenieure ihr Werk vollbracht haben, weiß Harrison selbstverständlich auch nicht. Kosmologen spekulierten jedoch bereits darüber, ob man im Prinzip so extreme Bedingungen herstellen könnte, dass dabei Tochter-Universen entstehen.

Besonders das Szenario der Kosmischen Inflation eröffnet Möglichkeiten, die bislang der Fantasie von Science-Fiction-Autoren vorbehalten waren: „Die hohe Kunst der Erschaffung von Universen“, wie Andrei Linde es provokant im Titel eines in der Fachzeitschrift „Nuclear Physics“ veröffentlichten Artikels formuliert hat.

Die Grundidee stammt von Alan Guth und Edward Farhi vom Massachusetts Institute of Technology. Sie haben vorgeschlagen, 10 bis 100 Kilogramm Masse aus Partikeln mit Ruheenergien von 1015 Gigaelektronenvolt im Labor so weit zu verdichten, dass ein Schwarzes Miniloch entsteht. Dessen Inneres könnte dann exponentiell zu expandieren beginnen. Es würde sich ein Tochter-Universum mit eigener Raumzeit bilden, das sich von unserem rasch abnabelt. „Das bringt keine spektakulären Änderungen mit sich, es entsteht kein großes Loch im Boden“, beschwichtigt Linde etwaige Befürchtungen – obwohl niemand sicher sein kann, ob dabei nicht das Vakuum im Erzeuger-Universum instabil wird, was eine Woge der Vernichtung auslösen würde.

Linde hat im Rahmen seines Modells der chaotischen Inflation (bild der wissenschaft 11/2005, „Mr. Universum“) das „Rezept“ der Welterschaffung noch verfeinert. Ihm genügen bereits wenige Hundertstel Milligramm als Ausgangsmaterie. Einen praktischen Nutzen verspricht er sich von der Prozedur allerdings nicht. „Man kann keine Energie von dem neuen Universum in unseres pumpen. Man kann nicht in das neue Universum hüpfen, denn im Moment seiner Erzeugung ist es winzig klein und extrem dicht, und anschließend schnürt es sich von unserem ab. Man kann noch nicht einmal Botschaften in das Universum senden. Würde man versuchen, gleichsam etwas in die Oberfläche des Universums einzugravieren, würden seine Bewohner in den kommenden Milliarden und Abermilliarden Jahren in einer Ecke eines Buchstabens leben.“ Das ist eine unvermeidbare Folge der Inflation: „Alle lokalen Eigenschaften eines Universums nach der Inflation hängen nicht von den Anfangsbedingungen im Moment seiner Entstehung ab.“ Damit würde auch jede eingravierte Botschaft unleserlich.

Trotzdem ist Linde zufolge das Unternehmen nicht vollkommen aussichtslos. Ein Schlupfloch gibt es nämlich doch: „Man müsste die Botschaft in den Eigenschaften des Vakuumzustands des geplanten neuen Universums unterbringen, das heißt, in den Eigenschaften der Naturgesetze seiner Niederenergie-Physik.“ Das ist eine große kosmische Herausforderung, wenn man mit der richtigen Kombination aus Temperatur, Druck und physikalischen Feldern den Vakuumzustand des neuen Universums „einstellen“ wollte. Doch wenn es viele Möglichkeiten der physikalischen Symmetriebrüche gibt, kann eine solche Feinjustierung sehr informationsgeladen sein.

„Ist das etwa der Grund, warum wir so hart arbeiten müssen, um die seltsamen Eigenschaften unserer schönen und nicht perfekten Welt zu verstehen?“, fragt Linde. „Bedeutet das womöglich, dass unser Universum designed wurde – aber nicht von Gott, sondern von einem Physik-Hacker? Wenn das wahr wäre, zeigt das Ergebnis, dass er einen sehr schwierigen Job hatte. Hoffentlich hat er nicht zu viele Fehler gemacht …“

Man mag solche Szenarien als technokratische Nachfolge der alten Schöpfungsmythen interpretieren – ein Gott im Sinn der monotheistischen Religionen ist hierfür jedenfalls nicht notwendig. Allerdings kann Edward Harrisons Vorschlag, selbst wenn er richtig wäre, die Feinabstimmungen nicht vollständig erklären. Denn wie das erste lebensfreundliche Universum mit intelligenten Weltenschöpfern entstanden ist und warum seine Naturgesetze deren Existenz ermöglichten, bleibt unbegreiflich. Das gibt Harrison auch zu. Insofern schiebt er das eigentliche Problem bloß eine Stufe weiter – um den hohen Preis einer wahrhaft kosmischen Architektur. Und er kehrt das Problem in gewisser Weise um: Wenn seine These stimmt, hätte sich unser Universum nicht von einfachen zu immer komplexeren Zuständen entwickelt, sondern wäre aus größerer und somit erklärungsbedürftigerer Komplexität entstanden – durch einen nebulösen Schöpfungsakt der kosmischen Ingenieure. Der Mathematiker John Byl von der Trinity Western University in Langley, Kanada, kritisiert denn auch: „Harrisons Spekulation könnte den Ursprung erklären – aber um den hohen Preis, das ursprüngliche Problem durch ein noch schwierigeres zu ersetzen.“ ■

Rüdiger Vaas

Ohne Titel

Die mutmaSSliche Feinabstimmung der Naturkonstanten nahm der Kosmologe Brandon Carter, der heute am Pariser Observatorium forscht, 1974 zum Anlass, auf einer Konferenz in Krakau das „ Anthropische Prinzip“ (AP) zu formulieren – und zwar in zwei Versionen:

• Schwaches AP: „Unsere Stellung im Universum ist notwendig privilegiert, insofern sie vereinbar sein muss mit unserer Existenz als Beobachter.“

• Starkes AP: „Unser Universum muss so beschaffen sein, dass es irgendwann die Entstehung von Beobachtern zulässt.“

Die Resonanz war im Lauf der Jahre überwältigend und reichte von enthusiastischer Zustimmung bis zu vehementer Ablehnung. Vor allem aber entstand ein großes Durcheinander. „Inzwischen sind über 30 Anthropische Prinzipien formuliert worden, und viele davon wurden mehrfach definiert, auf nicht äquivalente Weise, von verschiedenen Autoren und teilweise vom selben Autor zu verschiedenen Anlässen. Das Ergebnis ist eine wilde Konfusion, ein verwirrendes Dickicht“, kritisiert Nick Bostrom von der Oxford University.

Sinnvoll ist es, das Schwache AP als eine Tautologie zu akzeptieren, die uns auf Beobachter-Selektionseffekte aufmerksam machen soll. Das Starke AP hingegen ist eine umstrittene und zum Teil metaphysische Aussage. Oft übersehen wird, dass das AP nicht auf den Menschen allein gemünzt ist, sondern allgemein auf intelligente Beobachter, die die Feinabstimmungen der Konstanten erkennen können. Carter bereute seine missverständliche Terminologie später und spricht heute lieber von „ Selbstselektionsprinzip“ und „Kognitionsprinzip“.

Wie „fein“ die kosmischen Feinabstimmungen wirklich sind, ist freilich umstritten. Niemand kann momentan eine Wahrscheinlichkeit für die Werte der Naturkonstanten oder ihre Variationsbreite angeben.

Huldigt man außerdem nicht dem Anthropozentrismus, könnten die Feinabstimmungen gröber ausfallen als für erdähnliches Leben notwendig. Dann würde man intelligentes Leben nicht von vornherein auf komplexe Aggregate aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff einschränken.

Evolutionsbiologen sprechen von einer Anpassung der Lebewesen an ihre Umwelt. Demnach sollten die Feinabstimmungen nicht umgekehrt als Anpassung des Universums an den Menschen gedeutet werden. Dies würde die übliche Erklärung von Wirkungen durch Ursachen umkehren. Und es würde eine kosmische Zielgerichtetheit erfordern, mit der sich das Universum gleichsam den Bedürfnissen des Menschen unterordnet. „Wenn es uns so scheint, als ob die Natur so eingerichtet ist, dass sie Leben favorisiert, dann muss man sich hüten, nicht der Logik des mittelalterlichen Mönches zu verfallen, der meint, man müsse Gott dafür danken, dass er es so eingerichtet hat, dass die Sonne am Tage scheint und nicht nachts, wenn wir schlafen und nichts von ihr haben“, spottet Rudolf Kippenhahn, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München. „Hätte sich das Leben nicht vielleicht an jedes Weltall anpassen können, so wie der Mensch an Tag und Nacht, und ist vielleicht gar kein Grund da, sich zu wundern, dass es uns gibt?“

Hinzu kommt: Niemand weiß, ob die Naturkonstanten unabhängig voneinander sind – ob beispielsweise Variationen im Wert einer Konstante durch Variationen im Wert einer anderen kompensiert werden könnten.

Tatsächlich legt eine sorgfältige Studie von Anthony Aguirre von der University of California in Santa Cruz nahe, dass erdähnliches Leben auch in einem ganz andersartigen Universum hätte entstehen können. Denn die Existenz sonnenähnlicher Sterne mit Planeten legt die kosmischen Parameter noch nicht eindeutig fest. Es sind Universen vorstellbar, bei denen diese Parameter um viele Größenordnungen vom kosmologischen Standardmodell unseres Universums abweichen, ohne die Entstehung erdähnlicher Intelligenzen auszuschließen. Beispiele sind Universen, die ihre schweren Elemente schon in den ersten Sekunden in einem „kalten Urknall“ mit viel höherer Anfangsdichte erzeugt haben, die gleich viele Photonen wie Protonen und Neutronen besitzen – statt de facto rund eine Milliarde Mal mehr –, keine Dunkle Materie haben, 10 000- fach geringere Dichteschwankungen im Urgas aufweisen, eine wesentlich höhere Kosmologische Konstante oder eine andere Ausdehnung besitzen. In diesen Universen hätte es schon nach einigen Hundert Jahren Sterne mit stabilen Planetenbahnen gegeben. Aber bei höheren Werten der Kosmologischen Konstante wären kompakte Sternhaufen bald durch gewaltige Leerräume voneinander isoliert – das Weltall sähe für Beobachter dort also ganz anders aus als für uns. Aguirres Studie zeigt jedenfalls, dass die Diskussion der Feinabstimmungen bereits den Status der konkreten Berechenbarkeit erreicht hat und somit das Anthropische Prinzip überprüfbar ist.

Ohne Titel

Anthropische Überlegungen gehen schon auf die griechischen Philosophen zurück. In der Wissenschaft führten sie wenigstens in einem Fall zu Voraussagen, die experimentell bestätigt werden konnten, lange bevor das „Anthropische Prinzip“ seinen Namen erhielt:

Der britische Astrophysiker Fred Hoyle erkannte 1953, dass die Triple-Alpha-Reaktionsrate beim Helium-Brennen Roter Riesensterne empfindlich vom Wert eines bestimmten Energieniveaus des Kohlenstoffs abhängt. Diese Kernverschmelzungsreaktion in dem Spätstadium der Sternentwicklung ist notwendig für erdähnliches Leben, denn dabei entsteht fast der gesamte Kohlenstoff im Universum: Zwei Helium-Kerne fusionieren zu Beryllium-8, dieses verschmilzt mit noch einem Helium-4 zu Kohlenstoff-12, und dieser kann mit einem weiteren Helium-Kern Sauerstoff-16 bilden. Wäre der Energiezustand des Kohlenstoffs (knapp 7,7 Megaelektronenvolt) geringfügig anders, würde das Beryllium-8 zu schnell zerfallen, bevor sich mit Helium-4 genug Kohlenstoff bilden kann. Und wäre der Energiezustand von Sauerstoff-16 (gut 7,1 Megaelektronenvolt) geringfügig anders, würde der Kohlenstoff fast vollständig bei der Sauerstoff-Bildung verbraucht werden. Aus der Tatsache, dass es Kohlenstoff und Leben gibt, hat Hoyle den Wert des Energieniveaus richtig erschlossen – was die von ihm angeregten Messungen bereits wenige Monate später verifizierten.

Heinz Oberhummer von der Technischen Universität Wien, Attila Csótó von der Universität Budapest und Helmut Schlattl vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching haben die von Hoyle entdeckte Feinabstimmung inzwischen sehr genau quantifizieren können: Ihren Ergebnissen zufolge würden die Sterne bei einer Änderung der Stärke der Elektromagnetischen Kraft um 4 Prozent oder der Starken Kernkraft, die die Atome zusammenhält, um lediglich 0,5 Prozent fast nur entweder Kohlenstoff oder Sauerstoff bilden, nicht aber beides. Die Häufigkeit dieser lebensnotwendigen Elemente wäre um das 30- bis 1000fache erniedrigt. Das ist ein eindrucksvolles Beispiel einer Feinabstimmung.

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• Forscher grübeln, ob die lebensfreundlichen Werte der Naturkonstanten auf eine „tiefere Realität“ hinter der Physik deuten.

• Die Suche danach führt zu abgründigen Rätseln – und kontroversen weltanschaulichen Betrachtungen.

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Naturkonstanten – Geschichte und neue Erkenntnisse:

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Die physikalischen Feinabstimmungen und eine Kritik des Kreationismus:

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Umfassende Übersicht und Kritik zum Anthropischen Prinzip in Kosmologie, Philosophie und Theologie:

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Die vielen Welten der neuen Stringkosmologie:

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Philosophische Diskussion des Anthropischen Prinzips:

John Leslie

UNIVERSES

Routledge, London 1996 € 31,50

Das Standardwerk zum Anthropischen Prinzip mit vielen mathematischen Finessen:

John Barrow, Frank Tipler

THE ANTHROPIC COSMOLOGICAL PRINCIPLE

Oxford University Press Oxford 1988, € 23,10

Internet

Fundamentale physikalische Konstanten:

physics.nist.gov/cuu/ Constants/

Anthropisches Prinzip:

www.anthropic-principle.com

Homepage von Theodor W. Hänsch:

www.mpq.mpg.de/~haensch/htm/Haensch.htm

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