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Woher Wurzeln wissen, wo unten ist

Astronomie|Physik Erde|Umwelt

Woher Wurzeln wissen, wo unten ist
Dass Pflanzen einen Sinn für Gravitation haben, wissen Biologen schon lange. Doch wie sie die Schwerkraft wahrnehmen, steht im Zentrum aktueller Forschungen.

„Pflanzen können registrieren, wo oben und unten ist, und ihre Position durch eine Änderung des lokalen Wachstums in bestimmten Zellen modifizieren. Das ist zum Beispiel wichtig für den Wuchs von Getreide, denn sonst würden die Ähren auf den Boden hängen und an der feuchten Erde rasch verfaulen“, sagt Markus Braun von der Universität Bonn. „Der Gravitropismus, also die Ausrichtung im Schwerefeld, ist wichtig für das Wachstum von Wurzeln und Sprossen. Dadurch kontrollieren Pflanzen die Orientierung ihrer Organe, um sich beispielsweise nach einem Sturm wieder aufzurichten.“

Hinter diesen alltäglichen Erscheinungen stecken komplexe Mechanismen, zu deren Aufklärung Braun und sein Team mit raffinierten Experimenten in Raketen-, Space-Shuttle- und Flugzeug-Parabelflügen wesentlich beigetragen haben. Sie stehen dabei in bester Tradition, denn schon Charles Darwin hat sich mit dem Gravitropismus beschäftigt. Er war einer der Ersten, der zeigte, dass Wurzeln in Richtung der Schwerkraft wachsen – und Sprosse entgegengesetzt –, und er nahm an, dass es dafür Sensoren gibt: Wird die Wurzelspitze abgeschnitten, so „weiß“ die Wurzel nicht mehr, wo oben und unten ist, wie Darwin beobachtete.

Heute unterscheiden Pflanzenphysiologen drei Stufen des Gravitropismus:

• Perzeption – die Wahrnehmung der Schwerkraftrichtung. Maßgeblich dafür sind Schweresteinchen (Statolithen), wie es sie auch im menschlichen Innenohr gibt.

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• Transduktion – die Umwandlung des Reizes in ein zelleigenes Signal.

• Reaktion – ein differenzielles Wachstum, das zu einer Krümmungsbewegung führt, wenn die ursprüngliche Wachstumsrichtung vom Schwerkraftvektor abweicht. Dies geschieht, wenn eine Pflanze im Experiment um 90 Grad gekippt wird. Über die Mechanismen der Perzeption zerbrechen sich Biologen schon lange den Kopf. Eine Möglichkeit ist, dass die Schweresteinchen eine Art Druckschalter aktivieren – Biologen sprechen von einem Mechanorezeptor –, der von den Statolithen durch ihr Gewicht angeschaltet wird und dann eine physiologische Reaktionskette in Gang setzt. Eine andere Möglichkeit sind Kontaktrezeptoren, die schon durch leichte Berührungen über eine physiologische oder elektrische Wechselwirkung anspringen, unabhängig vom Gewicht der Statolithen. Mit diesem Mechanismus könnten die Zellen effizienter und sensibler auf Veränderungen reagieren.

Einen solchen kontaktabhängigen Wahrnehmungsmechanismus, bei dem Schweresteinchen mit speziellen Sensor-Molekülen in der Zellmembran interagieren, konnte Braun in den Rhizoiden der Armleuchteralge (Chara) nachweisen. Diese „Wurzelenden“ bestehen nur aus einer einzigen Zelle, die 30 Mikrometer (tausendstel Millimeter) dick und bis zu mehreren Zentimetern lang werden kann. In der Nähe der unteren Zellspitze gibt es so genannte Glanzkörperchen. Diese zwei Mikrometer kleinen Vesikel sind mit schwerem Barium-Sulfat gefüllt und dienen als Statolithen. Sie liegen nicht einfach im Plasma, sondern sind ins Zellskelett eingesponnen, das aus Fäden des Proteins Aktin besteht. Normalerweise befinden sich die Glanzkörperchen 10 bis 30 Mikrometer von der Rhizoid-Spitze entfernt. In der Schwerelosigkeit vergrößert sich dieser Abstand. Das entdeckte Braun schon vor ein paar Jahren mithilfe eines unbemannten Flugs einer Texus-Forschungsrakete, bei dem sechs Minuten Schwerelosigkeit herrschte.

„Die Statolithen werden unter Erdschwerkraft durch zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte im Gleichgewicht gehalten“, folgerte Braun nach der Datenauswertung. „Die Gravitation zieht sie nach unten, das Zellskelett wirkt dem entgegen.“ Als die Forscher die Algen mit Cytochalasin behandelten, lagerten sich die Statolithen in der Zellspitze ab und blieben auch bei Schwerelosigkeit dort – das Gift hatte das Zellskelett zerstört.

Bei einem mehrtägigen Flug im Space Shuttle Columbia beobachtete Braun, dass die Rhizoide der Algen in der Schwerelosigkeit normal wuchsen, aber in alle Richtungen. „Die auf Schwerkraft-wahrnehmung spezialisierten Zellen prägen auch ohne Gravitation ihre typische polare Zellorganisation aus. Sie folgen demnach einem genetisch festgelegten Programm, das selbst nicht von der Schwerkraft beeinflusst wird.“ Braun gelang es sogar, den Schwellenwert der Schwerkraftperzeption abzuschätzen – weniger als ein Zehntel der Erdschwerkraft genügt bereits, um die Statolithen zu verlagern.

Zu den Mechanismen der gravitropen Reaktion gibt es bereits ein Modell: Entspricht die Ausrichtung der Rhizoid-Zelle nicht dem Sollwert der Schwerkraftrichtung, fallen die Statolithen – geleitet durch die Gravitation und das Zellskelett – auf die Sensor-Moleküle in der unteren Zellmembran. Diese werden beim Kontakt mit den Statolithen angeschaltet. Dann kommt es über lokale Änderungen im Kalzium-Haushalt zu einer Hemmung des Einbaus von Zellwandmaterial. Das führt schließlich dazu, dass die untere Zellflanke langsamer wächst. Da die obere Zellflanke normal weiterwächst, krümmt sich die Rhizoidzelle in Richtung der Schwerkraft – also nach unten. In der Schwerelosigkeit hingegen gibt es keine Vorzugsrichtung: Das Wachstum der Zelle erfolgt orientierungslos.

Dass auch Höhere Pflanzen die Gravitation mithilfe eines Kontaktrezeptors registrieren, hat Brauns Team erst in den letzten Monaten entdeckt. Das gelang den Forschern mit Experimenten bei Parabelflügen des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums von Bordeaux und Köln aus. Bei einem Parabelflug herrscht für gut 20 Sekunden Schwerelosigkeit, wenn das Flugzeug im freien Fall in die Tiefe stürzt (bild der wissenschaft 5/2006, „Höhenflug beim Absturz“). In der Regel werden 31 Parabeln im Lauf von zwei Stunden geflogen, was insgesamt zehn Minuten Schwerelosigkeit bedeutet. „Parabelflüge eignen sich gut für die Erforschung von Pflanzenorganen, die schnell auf Schwerkraftänderungen reagieren“, erklärt Braun, der mit seinem Team schon mehr als 300 Parabeln absolviert hat.

Mit an Bord waren über 20 000 Keimsprossen und Keimwurzeln verschiedener Pflanzen: Ackerschmalwand (Arabidopsis), Gartenkresse, Wiesenweidelgras, Wiesenlieschgras und Reis. Jeweils eine Hälfte davon, die Kontrollgruppe, steckte in einem zur Zentrifuge umgebauten Schallplattenspieler. Sie sorgte während der Schwerelosigkeit für normale Erdenschwere. Die andere Hälfte wurde vorübergehend der Schwerelosigkeit ausgesetzt. Braun und seine Mitarbeiter fotografierten Ausrichtung und Wachstum der Keimlinge. Denn das Ausmaß der Krümmungsreaktion verrät etwas über den Mechanismus der Schwerkraftwahrnehmung der Versuchspflanzen. Die Datenauswertung war aufwendig und musste statistisch abgesichert werden. Ergebnis: Die Höheren Pflanzen nehmen die Gravitation ähnlich wahr wie die stammesgeschichtlich primitivere Armleuchteralge.

„Die getesteten Höheren Pflanzen besitzen ebenfalls einen druckunabhängigen Schwerkraftmesser, bei dem nicht das Gewicht der Schweresteinchen, sondern eine direkte Wechselwirkung die Sensor-Moleküle aktiviert“, nennt Braun das wichtigste Resultat. Und er erklärt Details: „Das Sensor-Molekül, das durch die Verlagerung der Statolithen aktiviert wird, reagiert deutlich langsamer als in den Rhizoiden der Armleuchteralge. Es wird auch langsamer wieder abgeschaltet, wenn der Reiz ausbleibt – wenn die Pflanze beispielsweise aus der Horizontalen wieder in die Vertikale gedreht wird. Bei den Proben in der Schwerelosigkeit haben wir die gleichen Krümmungswinkel gemessen wie bei der Kontrollgruppe – genau wie bei der Armleuchteralge. Das zeigt deutlich, dass hier sehr ähnliche Sensor-Mechanismen herrschen.“

Im Gegensatz zur Alge dienen bei den Höheren Pflanzen nicht Barium-Sulfat-Kristalle, sondern Amyoplasten als Statolithen. Aber auch diese stärkehaltigen Zellpartikel wechselwirken mit dem Zellskelett. Umlagerungen aktivieren hier ebenfalls Sensor-Moleküle und verändern den zellinternen Kalzium-Haushalt. Schließlich wird über die Regulation spezieller Transportproteine in der Zellmembran unter anderem das Phytohormon Auxin umgeleitet, das das gravitropische Krümmungswachstum auslöst.

Rüdiger Vaas

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