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DAS SCHWACHE GESCHLECHT

Gesellschaft|Psychologie

DAS SCHWACHE GESCHLECHT
Jahrzehntelang kämpften Frauen für eine starke Rolle in der Gesellschaft. Plötzlich ist von der „Krise der Männer” die Rede. Was ist dran?

Als die werdende Mutter von ihrer Gynäkologin erfuhr, „es wird ein Junge”, war das für sie alles andere als eine freudige Botschaft. Ein Junge – ausgerechnet in dieser Zeit, in der die Medien fast täglich über das „Risiko Mann” berichten? Was würde alles an Problemen auf sie und ihren Sohn zukommen? Tatsächlich sind schon in der Schwangerschaft Jungen das risikoreichere Geschlecht und – aus bisher ungeklärten Gründen – mehr von Fehlgeburten bedroht. Nach der Geburt sind sie in aller Regel in ihrer Entwicklung langsamer als die altersgleichen Mädchen, fangen später an zu sprechen, sind häufiger mit Sprachstörungen behaftet, leiden weitaus öfter an Krankheiten wie Autismus oder dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität (ADHS), sind anfälliger für Alkoholmissbrauch und harte Drogen und verdaddeln mehr Zeit am Computer.

Was die werdende Mutter jedoch am meisten beunruhigte: Jungs gelten spätestens seit der ersten PISA-Studie vor zehn Jahren als die Bildungsverlierer schlechthin. Sie lesen stockender, können sich weniger gut ausdrücken, sind häufiger Legastheniker, und selbst in einst klassischen Jungenfächern wie Mathematik und Naturwissenschaften sind sie nicht mehr unangefochtene Meister. Die Folge: Jungen sind unter den Abiturienten inzwischen in der Minderheit. 70 Prozent der Haupt-, Sonder- und Förderschüler sind Jungen. Und sie stellen die Mehrheit derer, die ohne Schulabschluss bleiben.

MÄNNER sind oft SCHEIDUNGSOPFER

Sind die Knaben erst einmal den Kinderschuhen entwachsen, sieht es für sie kaum besser aus: Männer werden eher arbeitslos, sie sind gewalttätiger, sie stellen den weitaus größeren Anteil der Insassen von Justizvollzugsanstalten, und sie töten sich häufiger selbst (siehe Grafik „Männer sorgen nicht gut für sich” ). Sie rauchen mehr und sterben in Deutschland im Durchschnitt fünfeinhalb Jahre früher als Frauen (siehe Grafik „Warum Frauen älter werden”). Außerdem werden sie häufiger von ihren Frauen verlassen als umgekehrt und somit zu „Scheidungsopfern”. Dass Frauen hierzulande in ehemaligen Männerdomänen Erfolg haben – etwa als Fußball-Weltmeister oder Kanzlerin –, kratzt zusätzlich am Ego des vermeintlich starken Geschlechts. Ergo: „Der Mann ist in der Krise”, sagt Matthias Franz. Der Professor für Psychosomatische Medizin organisierte im Februar einen internationalen Männerkongress an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Verhaltensforscher, Mediziner, Psychotherapeuten, Soziologen und Philosophen waren sich einig, dass „der wissenschaftliche Kongress längst überfällig gewesen sei”, betont Matthias Franz. Allein die Daten der Mediziner belegten das männliche Defizit.

Doch was die Gesundheit betrifft, sehen die Männer selbst das anders: Sie fühlen sich insgesamt vitaler als Frauen. Das ist ein Ergebnis einer 2009 veröffentlichten großen Männerstudie der beiden großen christlichen Kirchen. Die Autoren, der Düsseldorfer Sozialwissenschaftler Rainer Volz und sein Wiener Kollege Paul M. Zulehner, befragten 1470 Männer im Alter zwischen 17 und 85 Jahren – und zum Vergleich auch 970 Frauen – zu ihrem Rollenverständnis, ihrer Gefühlswelt, ihrer Einstellung zu Familie, Beruf, Gewalt und eben auch zur Gesundheit. Nur 33 Prozent aller befragten Männer gaben an, „sehr auf ihre Gesundheit zu achten”, und 40 Prozent gehen nur zum Arzt, wenn sie ernstlich krank sind. Vorsorgeuntersuchungen nehmen sie seltener wahr als Frauen. Und mehr als die Hälfte aller Männer (59 Prozent) misst der Arbeit einen höheren Stellenwert zu als der eigenen Gesundheit. Selbst wenn sie krank sind, bleiben sie der Arbeit ungern fern – 25 Prozent der Männer schleppen sich krank ins Büro. Von den Frauen sind es dagegen 19 Prozent.

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Der Körper ALS LEistungsmaschine

Das sind Zahlen, die den Gesundheits- und Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann nicht überraschen: „ Viele Männer betrachten ihren Körper funktional, als eine Art Leistungsmaschine, die nur gewartet werden muss, wenn sie völlig aus dem Takt geraten ist.” Dann ist es aber oft zu spät. Weil sie einen Arztbesuch, selbst wenn sie sich krank fühlen, auf die lange Bank schieben, sterben Männer häufiger an Herzkrankheiten, Krebs, Schlaganfällen oder Aids. Dass Männer derart leichtsinnig mit ihrem Leben umgehen, führen die Wissenschaftler auf ihr erlerntes und anerzogenes Rollenverhalten zurück (siehe Beitrag „ Wie ein Mann gemacht wird” in diesem Heft). „Jungen werden auch heute noch oft mit dem Leitspruch groß ‚ein Indianer kennt keinen Schmerz‘”, sagt Klaus Hurrelmann. Ein legendärer Satz mit fatalen Folgen.

Dass Frauen Männern gesundheitlich überlegen sind und sie auch um einige Jahre überleben, ist schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt, als erstmals nach Geschlecht getrennte Mortalitätsanalysen durchgeführt wurden. Vergleichsweise neu ist dagegen die Unterlegenheit des männlichen Geschlechts in der Bildung, in Deutschland wie in allen anderen OECD-Ländern. Warum Jungen schlechter abschneiden als Mädchen, bedarf noch endgültiger Klärung. Indizien deuten darauf hin, dass der Fehler nicht zuletzt im (Schul-)System steckt.

Vor allem offene Angebote, bei denen sich die Kinder das Lernmaterial selbst aussuchen und der Lehrer nur moderierend durch den Unterricht führt, sind für viele Jungen Gift. „Sie brauchen konkrete Aufgaben und klare Ziele”, meint Hurrelmann. Zudem müssen sie auch mal herumlaufen, laut sein und sich balgen dürfen – freilich in Maßen. Gefragt sind Lehrer, die dieses Bedürfnis beim Unterrichten berücksichtigen, damit auch Jungen mit ihrer geringeren Frustrationstoleranz zum Lernen motiviert werden. Das gelingt zum Beispiel mit Rollenspielen oder Eckenrechnen.

SIND DIE LEHRERINNEN SCHULD?

Ob Männer für Jungen die besseren Lehrer sind, wird im Hinblick auf die männliche Bildungsmisere immer wieder diskutiert. Zwar ging die Feminisierung des Lehrerberufs und der Aufstieg der Mädchen seit den 1980er-Jahren Hand in Hand, ein Zusammenhang ist aber nicht erwiesen. „Sind Lehrerinnen für den geringeren Schulerfolg von Jungen verantwortlich?”, fragten erst kürzlich die Autoren einer Studie vom Wissenschaftszentrum Berlin. Um das zu beantworten, wertete der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig die Daten von 3169 Schülern der vierten bis sechsten Klassen an 71 Berliner Grundschulen aus. Für die Längsschnittstudie in den Jahren 2003 bis 2005 wurden die Schüler dreimal in ihrem Leseverständnis und ihren mathematischen Leistungen geprüft, zudem füllten sie Fragebögen zu ihrer Lernmotivation aus. Ein Elternfragebogen erfasste das familiäre Umfeld der Kinder und deren Bildungshintergrund. Der Frauenanteil in den Lehrerkollegien lag zwischen 66 und 100 Prozent. Helbig kam zu dem Schluss: Die Lehrerinnen sind nicht für das Versagen der Schüler verantwortlich. Denn die Jungen profitierten weder in ihren mathematischen Kompetenzen noch in ihrer Lesefähigkeit davon, wenn mehr männliche Lehrer an einer Schule unterrichteten. In einer anderen Studie, die Helbig gemeinsam mit Kollegen des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung durchführte, wies er nach, dass die Leseleistung von Jungen und Mädchen sogar litt, wenn sie in Deutsch vier Jahre lang von einem Mann unterrichtet wurden.

Noch ein Argument spricht gegen eine frauenverschuldete Bildungsmisere der Jungs: Mädchen waren schon immer lernwilliger und wurden besser benotet als Knaben – auch zu Zeiten, als der Lehrerberuf noch fest in Männerhand war. So sind in den USA schon in den 1920er-Jahren bessere Noten für Mädchen belegt, in Deutschland seit den 1950er-Jahren. Nur dadurch, dass den Mädchen der Zugang zum Gymnasium und zur Universität lange verwehrt war, fiel das schlechtere Abschneiden der Jungen weniger auf.

DIE NEUE UNTERSCHICHT

Wohin das massenhafte Schulversagen von Jungen letztlich führen kann, zeigt die „Not am Mann”-Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Demographen haben eine Erklärung dafür gesucht, warum viele junge Frauen die neuen Bundesländer verlassen. Ihr Ergebnis: Im Osten erzielen die Mädchen „deutlich bessere Schulabschlüsse als ihre männlichen Altersgenossen”. Weil sie im eher wirtschaftsschwachen Osten keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden, der ihren Qualifikationen entspricht, kehren sie der Heimat den Rücken. Mit teils fatalen Folgen für die Zurückbleibenden, in der Mehrheit schlechter gebildete junge Männer mit dementsprechend schlechten beruflichen Perspektiven. Sie richten sich mit minimalen Bedürfnissen in ihrer prekären Situation ein und nehmen am gesellschaftlichen Leben so gut wie nicht mehr teil. Von Sozialarbeitern werden sie laut der Berliner Studie als „kaum entwicklungsfähig” eingeschätzt. Dazu sinken ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt. Denn es gibt nicht mehr genügend Frauen, mit denen sie eine Familie gründen können. Die Frauen, die noch da sind, interessieren sich nicht für die „neue Unterschicht”, wie die Berliner Forscher die perspektivlosen jungen Männer im Osten der Republik nennen, weil „sich Frauen in Deutschland bei der Partnerwahl sozial eher ‚nach oben‘ orientieren oder zumindest einen Partner auf gleicher sozialer Höhe suchen”. Die Konsequenz: Nachwuchs bleibt aus, ganze Landstriche veröden langfristig.

Auch politisch hat diese Entwicklung Folgen: „Tendenziell wird dort mehr rechtsradikal gewählt, wo viele junge Frauen abgewandert sind”, wissen die Forscher. Hauptursache dafür, so die Demographen, ist die Entwertung männlicher Rollenbilder, verursacht durch die Partnerlosigkeit und durch das Wegbrechen „ klassischer Männerjobs im Bergbau, in der Produktion oder im Baugewerbe”. Ein düsteres Szenario, das zeigt, wohin starres Festhalten an erlerntem Rollenverhalten führen kann. In der Studie heißt es dazu: „Spätestens seit der Wende ist klar, dass es die sozialistischen Helden der körperlich schweren Arbeit nicht mehr gibt. Männer müssen lernen, in Dienstleistungsberufe vorzudringen, die gerade im Osten noch immer als eher ,weiblich‘ gelten.”

MÄNNLICH TROTZ MÜLLDIENST

Ganz hoffnungslos ist die Situation für das sprichwörtlich starke Geschlecht aber nicht. Viele Männer haben erkannt, dass sie um Veränderung nicht herumkommen, so die zentrale Botschaft der Männerstudie der christlichen Kirchen. Ihre Autoren haben die Antworten der Männer mit einer früheren Untersuchung verglichen und festgestellt: Die Männerwelt, die 1998 noch „im Aufbruch” war, hat sich tatsächlich bewegt. Sie ist überwiegend von ihrem traditionellen Rollenbild abgerückt. Die meisten Männer haben entdeckt, dass die Gesellschaft mehr zu bieten hat als das traditionelle Ernährermodell mit der Hausfrau am Herd. Dass ein Mann, um modern zu sein, nicht vollends in die Rolle der Frau schlüpfen und Schürze tragen muss, steht außer Frage. Weder Frauen noch Männer finden verweiblichte Männer attraktiv, ergab die Untersuchung der Kirchen. Wie die Frauen einst ihre Rolle durch Berufstätigkeit erweitert haben, so gilt es heute für Männer „brachliegendes Männerland neu zu bewirtschaften”, sagen die Autoren der Männerstudie. Schließlich ist es durchaus möglich, die Kinder zur Kita zu bringen oder den Müll nach unten zu tragen, ohne auf seine Männlichkeit zu verzichten. Solche Veränderungen zahlen sich aus: Die beweglichen Männer fühlen sich am wohlsten, während die klassisch orientierten die geringsten Zufriedenheitswerte erreichen.

Trotzdem: Verinnerlicht haben den Rollenwandel noch längst nicht alle Männer. Die „teiltraditionellen” Männer haben die Veränderung in der Regel nicht selbst gesucht, sondern sich ihr „ oft zögernd angeschlossen, weil es ihnen unabwendbar erschien”, betont Studien-Co-Autor Rainer Volz. Das können finanzielle Gründe sein, weil ein Einkommen zum Unterhalt der Familie nicht mehr ausreichte, oder weil die neue Freiheit der Frau eben auch neue Anforderungen an den Mann stellt. Daneben sind vor allem junge Männer auf der Suche nach ihrer Identität. „Sie sind sich bewusst, dass klassische Männlichkeit, wie ihre Väter oder Großväter sie noch gelebt haben, ihre Fallstricke hat”, sagt Volz. „Vor allem die traditionell einseitige Orientierung zum Beruf ist für den Mann gefährlich”, meint er. Verliert er nämlich seinen Job, wird ihm damit auch der Lebenssinn genommen.

Frauen, die mit Familie und Beruf ohnehin zweigleisig fahren, haben damit weitere Halt gebende Elemente in ihrem Leben, allerdings auch ein Vereinbarkeitsproblem. Das wird unweigerlich auch auf Männer zukommen, die im Beruf erfolgreich sein, gleichzeitig aber auch Wäsche waschen und mit dem Nachwuchs Hausaufgaben machen wollen. Nur: Anders als bei Frauen reagiert die Gesellschaft, obwohl sie genau solche Männer fordert, nach wie vor mit Unverständnis auf Papis, die Teilzeit arbeiten und so auch mal einer Sitzung fernbleiben. Vor allem Väter in leitender Funktion ernten bei ihren Chefs für solcherlei Ansinnen wenig Verständnis, so der Befund einer im Oktober 2009 veröffentlichten Untersuchung des Heidelberger Milieu- und Trendforschungsinstituts Sociovision für das Bundesfamilienministerium. Moderne Männer leben danach in der Mitte der Gesellschaft – weder im bildungsfernen Milieu noch „in den obersten Führungsetagen von Aufsichtsräten und Vorständen”. Dort ist „weiter das einseitig profilierte Bild vom ‚starken Mann‘ attraktiv und auch Voraussetzung für den Eintritt in diese Etagen und Netzwerke”, so die Sociovision-Studie.

ANsichten WIE VOR 100 Jahren

Doch selbst wenn ein Mann heute bereit ist, die Rolle des Alleinernährers aufzugeben und eine Frau Karriere macht – die typisch männlichen und weiblichen Attribute haben sich laut der kirchlichen Studie kaum verändert. In der Selbst- und Fremdwahrnehmung sind sich beide Geschlechter einig, dass ein Mann stark, leistungsbewusst, dominierend und logisch denkend ist. Sie dagegen ist gefühlvoll, gepflegt, erotisch, und gesellig – eine Charakterisierung, als hätte es die Frauenbewegung nie gegeben. Das zeigt, dass es letztlich gar nicht darauf ankommt, die „von Natur aus angelegten genetischen Unterschiede zwischen Mann und Frau” über Bord zu werfen, um sich zu verändern. Im Gegenteil, sagt Klaus Hurrelmann: „Lebensfreude von Männern und Frauen hängt davon ab, dass Unterschiede bestehen bleiben und ein Spannungsverhältnis entstehen kann, das gegenseitige Attraktivität und Aufmerksamkeit sichert.”

Die Politiker haben die Situation erkannt: Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist festgeschrieben, dass man „eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik entwickeln” will. Und im Familienministerium gibt es jetzt das Referat 408 zur „Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer”. Bis sich hier Wirkung zeigt, braucht es aber sicher ebenso lang wie bei der Veränderung der Frauenwelt. Und vielleicht bräuchte es zudem mehr Frauen in den Chefetagen, die Verständnis für Windeln wechselnde Väter haben. ■

KATHRYN KORTMANN, freie Journalistin in Berlin, hat zwei Söhne, die gerne den Tisch decken und die Spülmaschine ausräumen – meistens.

von Kathryn Kortmann

Klaus Hurrelmann

Der Sozialwissenschaftler ist nicht nur Experte für Bildung und Gesundheit, sondern auch ein Pionier in Sachen „moderner Mann und Vater”. Vor 35 Jahren, als das erste seiner beiden Kinder auf die Welt kam und Frauen hierzulande noch das Familien-Regiment führten, ein Rechtsanspruch auf Kita-Plätze dagegen ferne Zukunftsmusik war, stand für Klaus Hurrelmann fest: „Ich teile mir mit meiner Frau die familiären Pflichten, und wir müssen beide nicht auf unsere Karriere verzichten.” Hurrelmann (Jahrgang 1944) ist Mitbegründer des Zentrums für Kindheits- und Jugendforschung an der Universität Bielefeld und war maßgeblich an der Etablierung der ersten deutschen „School of Public Health” beteiligt. Seit seiner Emeritierung 2009 ist er Professor an der privaten Hertie School of Governance in Berlin. „Organisieren und Improvisieren habe ich bei der Betreuung meiner Kinder gelernt”, sagt Hurrelmann.

Kein hoffnungsloser Fall

Wie traditionell ist eigentlich unser heutiges Männerbild, Herr Professor Dinges?

Das Rollenverständnis vom starken Mann als alleinigem Ernährer stammt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht führte dazu, dass Härte zum Erziehungsmaßstab für Jungen wurde. Erst die Industrialisierung trennte die Väter – anders als vorher im handwerklichen oder bäuerlichen Betrieb – den ganzen Tag von ihren Familien für die Arbeit in der Fabrik. Der Wohnbereich wurde zur Domäne der Frau, die fortan für ein behagliches Heim zuständig war.

Woher kommt dann das Bild vom Mann als Mammutjäger und der Frau als Hüterin des Feuers?

Der mutige Großwildjäger ist eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die ihre Leitbilder früheren Epochen übergestülpt hat. Soviel Großwild hat es schließlich gar nicht gegeben. Und die Frau war nie nur Hüterin des Feuers, sondern auch Sammlerin von Beeren und Kräutern, womit sie zum Lebensunterhalt der Familie beitrug.

Gibt es Möglichkeiten für Männer, ihre aktuelle Krise zu überwinden?

Zahlreiche. Es würde Sie überraschen, wie hoch der Anteil arbeitsloser Männer war, die sich nach der Wirtschaftskrise 1929 an der Hausarbeit beteiligten. Auch in punkto Gesundheit sind die Befunde der Historiker wesentlich positiver als die aktuellen Ergebnisse der Gesundheitswissenschaften. Bis 1800 etwa waren nämlich Männer häufiger beim Arzt als Frauen. Und Männer haben ihre Sorgen in Bezug auf ihre Gesundheit oder Krankheit auch kommuniziert. Ein Ausflug in die Geschichte bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für Männer. Sie sollten aufhören, sich einreden zu lassen, sie seien ein hoffnungsloser Fall.

MÄNNER sorgen nicht gut für sich

Männer aller Altersstufen gehen leichtfertiger mit ihrer Gesundheit um als Frauen, die mit Bewegung, gesundem Essen oder Entspannung mehr auf sich und ihren Körper achten. Auch Vorsorgeuntersuchungen finden bei Männern weniger Anklang, und sie schieben Arztbesuche oft auf die lange Bank. Zudem sind Suizide bei Männern weitaus häufiger als bei Frauen.

Warum frauen älter werden

Frauen haben generell eine höhere Lebenserwartung als Männer. In Deutschland werden sie fast fünfeinhalb Jahre älter, in Russland sogar mehr als zwölf Jahre, und in Indien sind es immerhin drei Jahre, wie die Tabelle rechts zeigt. Forscher diskutieren zwei mögliche Faktoren, die das Lebensalter beeinflussen: genetisch-biologische und soziale.

Der Wiener Demograph Marc Luy hält die verhaltens- und umweltbedingten Um-stände für ausschlaggebend, die biologischen dagegen für unwesentlich. Durch seine Bayerische Klosterstudie konnte er erstmals 1998 belegen, dass Männer ihre Lebenszeit ein Stück weit selbst in der Hand haben. Luy hatte die Lebensdaten von Frauen und Männern aus der Allgemeinbevölkerung mit einer Gruppe von fast 12 000 Menschen verglichen, die unter fast gleichen Bedingungen lebt: mit Mönchen und Nonnen. Der Tagesablauf hinter Klostermauern verläuft geregelt und vergleichsweise stressfrei, es wird nur wenig geraucht, Autofahrten sind ebenfalls eher selten, und um eine berufliche Karriere müssen sich die Ordensleute auch kaum Gedanken machen. Die Studie zeigt: Wer so lebt und wenigen Risiken ausgesetzt ist, wird älter – wenn er ein Mann ist. Unterschiede zwischen Frauen aus der Gesamtbevölkerung und den Nonnen gab es dagegen keine. Und die Männer hinter Klostermauern starben im Schnitt zwei Jahre früher als die Nonnen.

KOMPAKT

· Viele Männer vernachlässigen ihre Gesundheit und werden dadurch zum schwachen Geschlecht.

· Die Überzahl weiblicher Lehrkräfte ist nicht die Ursache für die mangelhafte Schulleistung vieler Jungen.

· Um die Krise zu bewältigen, müssen Männer das traditionelle Rollenbild aufgeben.

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Ute Scheub HELDENDÄMMERUNG Die Krise der Männer und warum sie auch für Frauen gefährlich ist Pantheon-Verlag, München 2010, € 14,95

Walter Hollstein WAS VOM MANNE ÜBRIG BLIEB Krise und Zukunft des starken Geschlechts Aufbau-Verlag, Berlin 2008, € 19,95

Melitta Walter JUNGEN SIND ANDERS, MÄDCHEN AUCH Den Blick schärfen für eine geschlechtergerechte Erziehung Kösel-Verlag, München 2005, € 16,95

Frank Dammasch (Hrsg.) JUNGEN IN DER KRISE Das schwache Geschlecht? Psychoanalytische Überlegungen Brandes & Apsel Frankfurt a.M. 2008, € 17,90

INTERNET

Studie „Männer in Bewegung” als Download: www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/ Publikationen/publikationen,did=121150.html

Informationen zum internationalen Männerkongress in Düsseldorf 2010: www.maennerkongress.de

Bayerische Klosterstudie: www.klosterstudie.de

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