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die wahrheit im märchenspiegel

Gesellschaft|Psychologie

die wahrheit im märchenspiegel
Das Lieblingsmärchen eines Kindes verrät einiges über dessen Persönlichkeit und kann sogar von therapeutischem Nutzen sein.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – und zwar tief in unserem Unterbewusstsein. Sie, das sind die Märchenhelden unserer Vergangenheit, genauer gesagt: die Figuren des Lieblingsmärchens unserer Kindheit. Und die sagen nach neuen psychologischen Studien etwas über unsere Persönlichkeit aus. Schon Freud hat vermutet, dass Märchen unsere Wünsche und Ängste spiegeln wie kein anderes literarisches Erzählgenre. Inzwischen scheinen Märchen zum psychotherapeutischen Programm zu gehören: Bei einer Umfrage unter Teilnehmern des Weltkongresses „Evolution of Psychotherapy” in Hamburg Mitte der 1990er-Jahre gaben immerhin 70 Prozent an, mit Märchen therapeutisch zu arbeiten. Den Impuls gab der Psychoanalytiker Hans Dieckmann. Er hatte in den 1960er-Jahren behauptet, viele Mensch trügen ein Lieblingsmärchen in sich – manchmal auch mehrere Lieblingsmärchen mit derselben Thematik –, das die Entwicklungskonflikte der Kindheit spiegele, sozusagen die Stolpersteine auf dem Weg zur Persönlichkeit. Trotz eines überdimensionalen Literaturaufgebots zu diesem Thema ist Dieckmanns Theorie nie wissenschaftlich überprüft worden. Bis sich Verena Bertignoll, Kinderpsychologin im italienischen Bozen, vor Kurzem der Sache annahm und in einer qualitativen Studie untersuchte, ob es dieses Phänomen des Lieblingsmärchens tatsächlich gibt. Und sie stellte fest: „Das Lieblingsmärchen hat diagnostischen Wert. Es bietet ein Bild für die eigene Geschichte.”

Bertignoll bat neun Kinder vor laufender Kamera, ihr das Märchen zu erzählen, das sie am liebsten hörten oder lasen. Die Psychologin wählte bewusst Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren, weil sie hier die Persönlichkeit und die Vorliebe für bestimmte Märchenhelden in der Phase ihrer Entstehung beobachten konnte. Sollte Dieckmanns Theorie stimmen, so dachte sie, dann würden die Kinder ihre aktuellen inneren und äußeren Konflikte unbewusst auf ein Märchen übertragen. Und so kam es dann auch: „Eigene Ängste und Befürchtungen”, sagt Bertignoll, „ wurden ebenso auf die Gestalten des Märchens projiziert wie aggressive Emotionen und Wünsche.” Wo und wie sich Persönlichkeit und Märcheninhalt überlagerten, verrieten die Kinder, indem sie bestimmte Geschehnisse im Märchen hinzufügten, ausschmückten, wegließen oder beim Erzählen ins Stocken gerieten. „Diese Momente” , ist Bertignoll überzeugt, „geben Hinweise auf das subjektive Erleben der Innen- und Außenwelt sowie auf Bewältigungsstrategien.”

DIE TRAURIGE KÖNIGSTOCHTER

In seinem Lieblingsmärchen „Der Froschkönig” war der zehnjährige Ruben von einem Moment besonders ergriffen: als der Königstochter die goldene Kugel, mit der sie spielte, in einen Brunnen im Wald fällt und sie anfängt zu weinen. Abweichend von der Grimm’schen Version war die Königstochter in seiner Fassung darüber sehr verzweifelt. Auch der Wald wirkte in seiner Erzählung sehr bedrohlich. „Märchen bieten Bilder”, sagt Bertignoll, „die das zum Ausdruck bringen, was das Kind gerade beschäftigt, und gleichzeitig eine Projektionsfläche, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.” In der Königstochter erkenne Ruben sich selbst: Sie hat – wie er – niemanden zum Spielen, und als sie das Schloss des Vaters verlässt, fällt ihr auch noch ihr einziges Spielzeug ins Wasser. Seine Mutter bestätigt, dass Ruben keine Freunde hat und das Haus nur ungern verlässt. Dass er seinen Konflikt zu bewältigen versucht, wird laut Bertignoll an einer Stelle besonders deutlich: als die Prinzessin die angebotene Hilfe des Frosches harsch abweist – anders als in der Originalversion. „Eine Entsprechung von Rubens Verhalten in kritischen Situationen”, sagt Bertignoll. Das Verhalten der Königstochter decke sich mit seinen Reaktionen, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt: Er bekommt einen Wutanfall.

Bei zwei anderen Kindern bestätigte sich Dieckmanns Voraussage, dass sich Kinder mit ähnlichen Problemen offenbar auch für dasselbe Märchen begeistern. Die Kinder, beide schüchtern und die jüngsten in der Familie, identifizierten sich mit dem kleinsten Geißlein aus „Der Wolf und die sieben Geißlein” . In dem Märchen wird, während die Geißenmutter außer Haus ist, das jüngste Geißlein als Einziges nicht vom Wolf gefressen, weil es sich im Uhrenkasten versteckt. Wie Bertignoll herausfand, hatten beide Kinder auf die eine oder andere Weise Angst, von ihrer Mutter verlassen zu werden. Bei einem Kind war die Mutter oft bis spätabends arbeiten, beim anderen gab es konkurrierende Geschwister. Auf die Frage, wie es passieren konnte, dass der Wolf die Geißlein verspeiste, nannte ein Kind die Geißenmutter als Schuldige und sagte: „Weil die nie kommt!”

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ERWACHSENE IM UHRENKASTEN

„Therapeutisch geht es darum”, erklärt Bertignoll, „das Gefühl des Verlassenwerdens zu erleben und dadurch zu erkennen, dass es sich überwinden lässt.” Wird es nicht überwunden, baut sich der normale Entwicklungskonflikt zu einer Entwicklungsstörung aus, oder zu einer Neurose. Neurotische Erwachsene haben zwar unbewusst ihren Konflikt auf eine Märchenfigur übertragen, ihn aber nie bewältigt, sondern nur die Verhaltensweisen dieser Figur übernommen. Zugespitzt formuliert: Sie verstecken sich im Uhrenkasten. Da die Hauptmärchenzeit in dem gleichen Zeitraum liegt, in dem auch das Fundament für eine mögliche spätere Neurose gelegt wird – etwa zwischen vier und zehn Jahren –, ist der jeweilige Konflikt mit seinem Spiegelbild im Märchen verbunden. Findet man das Spiegelbild, so findet man auch den Konflikt.

Viele Eltern glauben, dass die Märchen mit ihren oft gewaltsamen Übergriffen Kindern eher schaden als nützen. Dieckmann widerspricht: „Das Märchen ist in aller Regel das erste und früheste Kulturprodukt, mit dem der Mensch in Berührung kommt.” Die Märchen würden den Kindern helfen, Verhaltensmuster für die großen Grundprobleme zu entwickeln – Angst, Aggression, Einsamkeit, Tod. Bertignoll glaubt, dass harmlosere moderne Erzählungen diese Aufgabe unzureichend erfüllen. Auch böten sie „ kaum Projektionsfläche, weil sie vordefiniert und nicht so offen sind wie Märchen”. Schneewittchen redet nicht darüber, was sie fühlt, als ihre Stiefmutter sie umbringen will, sie geht einfach zu den sieben Zwergen. Was das zu bedeuten hat, fühlt jedes Kind instinktiv – und sehr unterschiedlich. Denn es ist der Spiegel, in dem es sich am besten sieht. ■

TINA SUCHANEK, freie Journalistin in Leipzig, hörte als Kind am liebsten die 1001 Geschichten der Märchenerzählerin Scheherazade.

von Tina Suchanek

KOMPAKT

· Wie Kinder Märchen erzählen, legt ihre inneren Konflikte offen.

· Denn in die Märchengestalten werden eigene Emotionen und Ängste projiziert.

· Die häufig kritisierte Brutalität einiger Märchen hat auch Vorteile.

Ohne Titel

Worauf muss man achten, wenn man Kindern Märchen erzählt, Herr Kober?

Zum einen sollten die Märchen dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen. Zum anderen sollte das Märchen der sogenannten mythologischen Struktur folgen. Solche Märchen zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Kind einen Hoffnungsimpuls schenken: die Hoffnung, dass das Kind – so wie der Märchenheld – sein Schicksal bestimmen kann, indem es einem Ruf folgt, hinaus geht in die Welt, sich Aufgaben stellt und dafür letztlich belohnt wird.

Welches Feedback bekommen Sie von kindlichen Zuhörern?

Kinder wünschen sich, Erzählsituationen selbst mitgestalten zu dürfen. Sie möchten mitrufen, Gesten und Bewegungen mitmachen. Und sie möchten gefragt werden, wie sie selbst in dieser oder jener Situation gehandelt hätten.

Kommt man so auch an innere Konflikte der Kinder heran?

Ich glaube, dass jeder einfühlende Mensch einem anderen näherkommt, indem beide über Geschichten mit den universellen menschlichen Grundthemen sprechen: Liebe, Tod, Schicksal, Gott, Verlust, Gewinn und so weiter. Sie werden in den Mythen aller Kulturen, in Sagen und in Fabeln bis hin zur Oper thematisiert – und natürlich in Märchen.

Welchen Stellenwert haben Märchen heute in der Welt der Erwachsenen?

Märchen wurden bis zur Romantik von Erwachsenen für Erwachsene erzählt und erst danach zur Kinderunterhaltung degradiert. Als Erzählstoff begegnet uns das Volksmärchen auf vielen Erzählkunstveranstaltungen. Da es dort aber meist rezitiert, also nicht frei erzählt wird, baut sich eine Distanz auf zwischen Erzähler und Zuhörer. Deshalb erreichen die Inhalte von Märchen heute oft nur wenige Menschen.

MEHR ZUM THEMA

Lesen

Verena Bertignoll KINDER LEBEN MÄRCHEN Eine sozialpsychologisch-qualitative Studie Studien Verlag, Innsbruck 2006, € 19,90

Verena Kast MÄRCHEN ALS THERAPIE Patmos, Düsseldorf 2002, € 14,–

Hans Dieckmann GELEBTE MÄRCHEN Lieblingsmärchen der Kindheit Königsfurt Urania, Krummwisch 2001 nur noch antiquarisch, ca. € 9,–

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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