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Genial daneben

Gesellschaft|Psychologie

Genial daneben
Die moderne Hirnforschung bestätigt ein Vorurteil: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Genie und „Wahnsinn“ . Und: Von Autisten können wir viel über die Denkprozesse im ganz normalen Gehirn lernen.

„Es hat noch keinen grossen geist ohne Beimischung von Wahnsinn gegeben“, meinte der römische Philosoph Seneca. Und viele große Geister, darunter Shakespeare und Schopenhauer, gaben ihm später Recht.

Doch existiert ein wissenschaftlicher Beweis für diese These? Ist sie mehr als ein Vorurteil, mit dem sich Intellektuelle über ihre Neurosen hinwegtrösten – und mittelmäßige Denker über ihre Durchschnittlichkeit?

Die Wahrheit ist: Die These erhärtet sich. Für einen Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn sprechen immer mehr wissenschaftliche Befunde. Sie stammen heute vor allem aus vier Quellen: der Biographieforschung, der Genetik, der Psychologie und der Hirnforschung.

Biographieforschung: Der Preis der Größe

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Viele berühmte Künstler und Wissenschaftler litten an psychischen Störungen: Der Chemiker Justus von Liebig schwankte zwischen Depressionen und manischen Phasen voller Rastlosigkeit, die Dichterinnen Virginia Woolf und Sylvia Plath begingen nach langem Leiden Selbstmord, und der Mathematiker und Wirtschafts-Nobelpreisträger John Nash war schizophren. Sein Leben wurde erfolgreich in Hollywood verfilmt („A Beautiful Mind“ ). Und diese Menschen sind keine zufälligen Ausreißer aus einer Grundgesamtheit mehrheitlich kerngesunder Genies, wie mehrere Forscher herausfanden.

Felix Post, pensionierter Psychiater aus London, hat eine lange Reihe von Biographien gesichtet und den Stars posthum eine psychiatrische Diagnose gestellt. In seiner 1994 veröffentlichten Studie „Kreativität und Psychopathologie“ wertet er die Lebensläufe von 291 weltberühmten Männern aus – darunter der Evolutionsbiologe Charles Darwin und der Quantenphysiker Erwin Schrödinger. Frauen schloss er aus, weil er nicht genug geeignete Biographien fand. Ergebnis: Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen finden sich in der Elite wesentlich häufiger als unter Durchschnitts-Männern.

Das ist hauptsächlich den bildenden Künstlern und den Schriftstellern zu verdanken: Von ihnen litten 37,5 beziehungsweise 46 Prozent an schweren Gemütskrankheiten. Klingende Namen finden sich darunter: Cézanne, Gauguin, Kandinsky oder auch Dostojewski, Hemingway, Thomas Mann und Strindberg. Leichte Störungen waren sogar so häufig, dass Post nur einen unter seinen Poeten psychisch unauffällig fand: Maupassant. Wissenschaftler und Politiker erwiesen sich dagegen als vergleichsweise normale Charaktere.

Eine Untersuchung von Arnold M. Ludwig, inzwischen emeritierter Professor der University of Kentucky, bestätigte 1995 den Trend: Von mehr als 1000 untersuchten Berühmtheiten des 20. Jahrhunderts hatten Musiker, Entertainer, Schauspieler und Schriftsteller zu 30 bis 42 Prozent mindestens einmal im Leben Hilfe beim Psychiater gesucht – dreimal so viele wie in der Normalbevölkerung. „Der Preis der Größe“ nennt Ludwig sein Buch, denn er hat einen quantitativen Zusammenhang festgestellt: Je erfolgreicher die Künstler waren, desto verrückter – und umgekehrt. Persönlichkeitstests an lebenden Kreativen, die die Universität von Berkeley in Kalifornien während der siebziger Jahre durchführte, waren bereits zum selben Ergebnis gekommen.

Genetik: Es liegt in der Familie

Doch wie ist hier der Zusammenhang? Treibt ein aufregendes Künstlerleben die Genies in den Wahn, wie Felix Post vermutete? Oder kommen kreative Köpfe schon mit einem anders gearteten und damit anfälligeren Gehirn auf die Welt?

Befunde aus der Erbforschung sprechen für die zweite Hypothese. Jon Karlsson vom Institut für Genetik in Reykjavik veröffentlichte im April 2004 eine bemerkenswerte Studie aus Island: Er hatte zunächst die Krankenhaus-Daten von 180 jungen Männern eingesehen, die zwischen 1871 und 1960 mit besten Noten an die Universität gegangen waren. Außerdem hatte er die Daten von 1016 ihrer Verwandten studiert. Ergebnis: Statt einem Fall von stationär behandelter Psychose – wie statistisch zu erwarten wäre – fand Karlsson unter den Spitzenschülern vier Fälle. Unter den Verwandten gab es 22 schwere Psychosen statt der erwarteten 8.

Der Isländer verfeinerte seine Methodik und suchte – unter den Top-Wissenschaftlern seines Landes und ihrer näheren Verwandtschaft – nach einem Zusammenhang zwischen Psychose-Risiko und Fachgebiet. Resultat: Geisteswissenschaftler beiderlei Geschlechts sind genetisch unbelastet. In ihren Familien kommen Psychosen nicht häufiger vor als in der Gesamtbevölkerung. Anders sieht das bei den Mathematikern aus: Zwei bis drei Mal so viele Psychosen wie erwartet plagen ihre Familien.

Wie eine dritte Erhebung auf der Insel zeigte, haben Studenten naturwissenschaftlicher Fächer mit hervorragenden Mathe-Noten tatsächlich ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Karlsson fand 4 Schizophrene sowie 7 Depressive unter 90 Untersuchten. Außerdem zeigte sich, dass die Ursachen für die Kombination von Begabung und Erkrankung zumindest teilweise vererbt werden.

Das kommt in den besten Familien vor – und nicht nur in Island. Betrachten wir die englische Gelehrtenfamilie Huxley: Thomas Henry Huxley, Kollege und Anhänger Darwins, wurde von häufigen Depressionen geplagt, sein Vater war im Irrenhaus gestorben. Thomas Henry hatte sechs Geschwister, unter ihnen galt nur eine Schwester als psychisch normal. Kein Wunder, dass auch Tochter Marian früh den Verstand verlor. Obwohl – oder weil – sich Persönlichkeitsstörungen durch die Familiengeschichte ziehen und Selbstmorde häufen, brachte die Sippe mehrere höchst erfolgreiche Intellektuelle hervor: den Medizin-Nobelpreisträger Andrew Fielding Huxley, den Biologen Sir Julian und natürlich Aldous, den berühmten Schriftsteller („Schöne neue Welt“).

Psychologie: Ungewöhnliche Assoziationen

Was ist es aber, das ein Gehirn auf der einen Seite zu kreativen Höchstleistungen befähigt und auf der anderen Seite anfällig für Psychosen macht? Der aus Nazi-Deutschland nach England emigrierte Psychologe Hans Eysenck spekulierte schon Anfang der neunziger Jahre, der gemeinsame Nenner könnte der Reichtum an Assoziationen sein. Der wiederum wird durch Filterprozesse im Gehirn geregelt, bei denen Nervenüberträgerstoffe wie Dopamin und Serotonin eine Rolle spielen. Sind die Filter scharf eingestellt, so die Erkenntnisse aus Tier- und Menschenversuchen, helfen sie uns, aus einer Fülle von Eindrücken nur die relevanten herauszufinden und den Rest zu vergessen. Versagen sie wie bei Psychotikern, strömen die Ideen unkontrolliert und führen letztlich „zu dem unverständlichen Wortsalat des chronisch Schizophrenen“, wie es Eysenck drastisch formuliert.

Irgendwo zwischen der Rigidität des Alltagsbewusstseins und dem enthemmten Wahn müsse das Optimum an Filterstärke liegen, das zu kreativen Leistungen befähigt, folgert Eysenck: „Mehr ungewöhnliche Assoziationen, Ideen, Erinnerungen und Vorstellungen als üblich zu haben, ist das Kennzeichen einer kreativen Person.“

Eine schöne Theorie, aber kann man sie beweisen? Shelley Carson, Psychologin von der amerikanischen Harvard-Universität, ist überzeugt, dass ihr das jetzt gelungen ist. Zusammen mit Kollegen entwickelte sie ein Testverfahren für das Maß an „ latenter Inhibition“ (LI), so der Fachausdruck für die Wahrnehmungsfilter im Hirn: Ihre Versuchspersonen, 182 Studenten, mussten sich Nonsens-Silben und Hintergrundgeräusche anhören, während gelbe Lichter auf einem Bildschirm flackerten. Genauere Details über das experimentelle Design verraten die Forscher nicht, weil die Versuche der US-Wissenschaftler fortgesetzt werden. Mit anderen Tests wurden Kreativität und Intelligenz vermessen. Das Ergebnis: Kreativität ist tatsächlich mit niedriger „latenter Inhibition“ – also weniger Wahrnehmungsfiltern – gepaart.

Die Psychologin interessierte sich vor allem für Studenten, die ihre außergewöhnliche Kreativität bereits unter Beweis gestellt hatten: Sie hatten zum Beispiel mit Anfang 20 schon Bücher veröffentlicht, in bekannten Galerien Bilder ausgestellt oder begehrte Wissenschaftspreise eingeheimst. Diese jungen Überflieger, so lautete das Ergebnis, waren siebenmal so häufig am unteren Ende der LI-Skala zu finden als ihre Kommilitonen. Auffällig war auch ihr hoher Intelligenzquotient.

Dieser könne ein guter Schutz sein gegen das Risiko, verrückt zu werden, meint Carson: „Überschwemmt zu werden mit neuen Informationen, die schwer einzuordnen sind, mag zu psychischen Störungen führen“, sagt sie. „Aber wenn man sehr intelligent ist und ein gutes Arbeitsgedächtnis hat, kann man Teile der neuen Information auf kreative Weise verbinden.“

In weiteren Experimenten will die Psychologin nun herausfinden, ob Kreative ihre Filter im Kopf je nach Bedarf an- und abschalten können. Und ob es Drogen ohne Nebenwirkungen gibt, die die Kreativität vorübergehend erhöhen. Auch mit Manipulationen des Schlaf-Wach-Rhythmus und mit hellem Licht wird an der Harvard-Universität experimentiert.

Hirnforschung: Den Zensor abschalten

Auf eine kreativitätsfördernde Reizung der grauen Zellen zielt auch eine Methode ab, die aus Australien kommt: Unter dem Stichwort „Denkkappe“ hat sie weltweit Schlagzeilen gemacht. Die „ Denkkappe“ des originellen Physikers und Hirnforschers Allan Snyder funktioniert mit „transkranieller magnetischer Stimulation“ (TMS) – einer Art Störwellensender für Teile des Hirns. Sie baut auf Erkenntnissen auf, die an geistig behinderten Menschen gewonnen wurden, genauer gesagt: an Autisten. Autismus, der mehr eine Entwicklungsstörung des jugendlichen Gehirns ist als eine Erkrankung, fasziniert die psychologische Fachwelt, zieht aber auch Laien in ihren Bann.

Wer den Film „Rain Man“ gesehen hat, in dem Dustin Hofmann einen Autisten spielt, weiß, dass es unter Autisten Menschen mit besonderen Talenten, so genannten Inselbegabungen, gibt: Raymond, der „Rain Man“, kann zum Beispiel auf einen Blick erkennen, wie viele Zündhölzer aus einer Schachtel gefallen sind. Er ist ein Blitzrechner und hat ein perfektes Gedächtnis für Spielkarten – was sich im Laufe des Films als gewinnbringend herausstellt.

All diese Talente und noch mehr – etwa das absolute Gehör für Tonhöhen oder eine frappierende Begabung zum naturgetreuen Zeichnen – kommen auch bei real existierenden Autisten vor. Man nennt diese seltenen Typen „Savants“ (Wissende). Es gibt vielleicht 50 auf der ganzen Welt.

Der Name „Savants“ ist übrig geblieben von dem früheren Begriff „idiots savants“ (wissende Idioten). Wenig schmeichelhaft für die Betroffenen, bringt er zum Ausdruck, dass sich hier außergewöhnliche Leistung mit schwerster geistiger Behinderung paart: Denn zum Management ihres Alltags und zu normalen sozialen Beziehungen sind Savants ebenso wenig in der Lage wie gewöhnliche Autisten. „Ich möchte mit keinem von ihnen tauschen“, sagt Niels Birbaumer von der Universität Tübingen, der die Gehirne von gut einem Dutzend heute lebender Savants mithilfe der Kernspintomographie untersucht hat.

Dass sich Hirnforscher wie Snyder und Birbaumer so sehr für die Savants interessieren, hat keinerlei exotischen Hintergrund. Denn nach einer Theorie tragen alle Menschen diese besonderen Talente in ihrem Hirn. Sie wären demnach Teil des gewöhnlichen Denkens und Wahrnehmens – bloß normalerweise verschüttet und unserem Bewusstsein nicht zugänglich, weil sie zu den „niedrigen“ Verarbeitungsstufen gehören.

Genau genommen handelt es sich um die ersten Schritte beim Entstehen eines Eindrucks oder einer Idee – um die Rohfassung sozusagen. Was danach ins Bewusstsein vorstößt, hat schon die Form von „Konzepten“ angenommen: Die Filter haben vieles ausgesiebt, und der Rest wurde unseren Erwartungen und Erinnerungen angepasst. Das Resultat: Wahrnehmen, Denken und Schaffen nach Schema F.

Beispiel Kunst: Aufgefordert, einen Hund zu zeichnen, malen die meisten Kindergartenkinder ein Tier nach dem gleichen Schema: Es hat einen Bauch, vier Beine, Hals, Kopf und Schwanz. Ein berühmt gewordenes Savant-Kind, die dreieinhalbjährige Nadia, konnte jedoch aus dem Kopf wunderbar plastisch wirkende Hunde und Pferde aus verschiedenen Blickwinkeln zeichnen. Diese Fähigkeit verlor das Mädchen, als es im Alter von sieben Jahren verspätet sprechen lernte. Mit der Sprache setzte sich auch bei ihr Schema F durch.

Was die von Allan Snyder ausgearbeitete „Wir haben es alle“ -Theorie stützt, ist die Beobachtung, dass Savant-Fähigkeiten nicht nur bei entwicklungsgestörten Kindern auftreten, sondern auch durch Unfälle und Krankheiten ausgelöst werden können. So wurde ein vorher normaler Junge zum Blitzrechner und Gedächtniskünstler, nachdem er sich mit zehn Jahren an der linken Kopfseite verletzt hatte. Der Psychiater Bruce Miller von der University of California in Los Angeles hat sogar Fälle dokumentiert, bei denen der Beginn einer degenerativen Erkrankung, der „frontotemporalen Demenz“, aus erwachsenen Kunstbanausen hervorragende Zeichner machte.

Der linke Frontotemporal-Lappen, also die Großhirnregion unter unserer linken Stirn und Schläfe, steht bei Neurologen ohnehin unter dem Verdacht, der „Zensor im Kopf“ zu sein. „Warum ihn nicht einfach abschalten?“, fragte sich Allan Snyder und entwickelte einen magnetischen Störsender, die „Denkkappe“. „ Meine Experimente sind auf den Glauben gegründet, dass man außerordentliche Fähigkeiten anschalten kann, indem man Teile des Hirns ausschaltet“, erklärte er.

Und die Ergebnisse? Sie sind bisher nicht ganz so spektakulär wie die Ankündigung erwarten ließ. Vier von elf freiwilligen Versuchspersonen änderten ihren Zeichenstil, nachdem sie sich 15 Minuten lang die Denkkappe aufgesetzt hatten, drei von ihnen berichteten, sie hätten dabei eine Veränderung gespürt („mehr Sinn für Details“). Zwei aus dieser Gruppe entwickelten mit Magnetstimulation auch höhere Fähigkeiten beim Erkennen von Wortverdoppelungen in einem Text – Fehler, die man leicht überliest, wenn man auf den Sinn der Wörter statt auf die Buchstaben achtet. Der Effekt verlor sich eine halbe Stunde nach Absetzen der Stimulation.

Niels Birbaumer wird ein wenig spöttisch, wenn er die mageren Ergebnisse des australischen Kollegen kommentiert: „Das kann nicht klappen, wenn man bei allen Versuchspersonen dieselbe Stelle stimuliert. Dazu sind individuelle Gehirne zu verschieden.“ Die Erfahrung musste er selbst machen, als er die Aktivitätsmuster in den Denkorganen von 14 Savants mithilfe der funktionellen Kernspintomographie untersuchte. „Ich hatte erwartet, dass sie alle beim Schnellrechnen dasselbe Muster zeigen. So war es aber nicht.“ Offensichtlich sei das Krankheitsbild des Autismus genauso heterogen wie das der Schizophrenie: „Bei unterschiedlichen Menschen sind unterschiedliche Areale betroffen – und wohl auch unterschiedliche Gene.“

Dennoch glaubt Birbaumer, dass wir, wenn wir wollen, „den Rain Man in uns trainieren können“ – wie jene Schnellrechenmeister, die keine Autisten sind, sondern ihre mathematischen Kunststückchen so lange geübt haben, bis auch ihre Hirne außergewöhnliche Aktivierungsmuster zeigten. Er warnt aber davor, es zu versuchen: „Vermutlich muss man einen Preis dafür bezahlen.“ Die neue Leistung könnte auf Kosten anderer Fähigkeiten gehen.

Vielleicht sollte die Zunft der Hirnforscher sich weniger auf die spektakulären Savants konzentrieren, sondern auf eine Gruppe von Autisten zugehen, mit denen eine Verständigung möglich ist: Menschen mit Asperger-Syndrom. Sie könnten in Zukunft nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Forschung sein.

Es sind Hochbegabte: Kinder wie der sechsjährige Asa, der in New York auf eine Spezialschule geht, weil er ein tiefes Interesse an Atomphysik mit der Vorliebe kombiniert, sich auf dem Teppichboden zu wälzen. Oder Erwachsene wie der in Südafrika geborene Mathematiker Richard Borcherds. Er gewann eine Fields-Medaille, die höchste Auszeichnung in seinem Fachgebiet, ist aber nicht in der Lage, einem Besucher einen Stuhl anzubieten oder ein normales Telefongespräch zu führen.

Trotz ihrer unfreiwilligen Marotten haben manche Asperger-Patienten erstaunliche Karrieren gemacht. Selbst der Name Albert Einstein fällt manchmal im Zusammenhang mit der Krankheit, denn der Entdecker der Relativitätstheorie war ein sprachlicher Spätentwickler und wurde von seinem Kindermädchen „ der Depperte“ genannt. Gesichert ist die Diagnose bei ihm aber nicht.

Faszinierend ist die Lebensgeschichte von Temple Grandin, einer der wenigen Frauen, die am Asperger-Syndrom leiden. Der amerikanische Psychiater Oliver Sacks hat sie als „Anthropologin auf dem Mars“ beschrieben, denn Temple Grandin musste sich die Spielregeln der menschlichen Gesellschaft mit wissenschaftlich-rationalen Methoden erschließen, weil ihr der emotionale Zugang fehlt.

Die Amerikanerin Grandin ist mittlerweile über 50, promoviert und Expertin für Tierzucht. Sie konstruiert Ställe und Maschinen für die Landwirtschaft. Neben ihrer Ingenieurtätigkeit verfolgt sie die Forschungen zum Autismus. In Büchern und Texten macht sie sich Gedanken über ihr eigenes außergewöhnliches Gehirn und das der „Neurotypischen“ – des „normalen“ Rests der Welt.

Vor kurzem beschrieb sie in einem Artikel, was in ihr vorgeht, wenn sie erfindet: „Wenn ich in meinem Betrieb Geräte für die Tierzucht entwerfe, dann kann ich in meiner Vorstellung dreidimensionale bewegte Videos der Geräte ablaufen lassen, und ich kann die Geräte in meiner Vorstellung testen. Ich kann um sie herumgehen oder über sie hinwegfliegen.““ ■

JUDITH RAUCH ist Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin. Der Schwerpunkt der bdw-Autorin ist die Gehirnforschung.

Judith Rauch

Ohne Titel

· Bei Künstlern gilt: Je verrückter desto erfolgreicher.

· Unter Wissenschaftlern leiden vor allem Mathematiker an psychischen Erkrankungen.

· Bei Kreativen wie bei Psychotikern fehlen oft „Filter“ im Gehirn.

Ohne Titel

„Nichts als Spekulation und Fiktion“ , schimpft Prof. Karl Zilles. Der Direktor des Düsseldorfer Vogt-Hirnforschungsinstituts und des Jülicher Instituts für Medizin ärgert sich über Dr. Sandra Witelson. Die kanadische Neurowissenschaftlerin hatte die Ergebnisse ihrer Untersuchung an Albert Einsteins Gehirn als „Meilenstein“ proklamiert: Sie habe Einsteins Genialität lokalisiert.

1955 hatte der Pathologe Thomas Harvey dem Erfinder der Relativitätstheorie kurz nach dessen Tod im Princeton Hospital, New Jersey, das Gehirn entnommen – mit der Erlaubnis von Einsteins Sohn. Doch dann wusste er in den folgenden 40 Jahren nichts damit anzufangen, außer es von allen Seiten zu fotografieren, in 240 würfelförmige Blöcke zu zerteilen und diese, in Formalin eingelegt, bei sich zu Hause im Regal zu horten. Als sich 1999 Sandra Witelson von der McMaster University in Ontario/Kanada die Hirnblöckchen vornahm, entdeckte sie eine anatomische Besonderheit: Bei Einstein waren zwei Hirn-Furchen, die Sylvische und die Zentralfurche, miteinander verwachsen und der untere Scheitellappen dadurch um 15 Prozent größer als beim Bevölkerungsdurchschnitt. Witelson schloss daraus: Da es sich beim Scheitellappen um die für das mathematische Denken und räumliche Vorstellungsvermögen zuständige Region handele, sei diese anatomische Auffälligkeit ein untrügliches Indiz für Einsteins Genialität.

Witelsons Untersuchung rief ein weltweites Medienecho und eine Kontroverse in der Wissenschaft hervor. „Im Scheitellappen ist eine Reihe ganz unterschiedlicher Leistungen lokalisiert“, wehrt Karl Zilles ab. „Dazu zählt auch das räumliche Vorstellungs- und Orientierungsvermögen. Aber: Was hat das mit Einsteins außerordentlichen Leistungen zu tun?“ Schon beim Lesen und Rechnen sind außer dem Scheitellappen noch viele andere Hirnregionen involviert.

Prof. Folker Hanefeld von der Abteilung Neuropädiatrie des Göttinger Universitätsklinikums meint, die bei Einstein gefundene Abweichung sei eher eine Erklärung für dessen frühkindliche Sprachentwicklungsstörung (siehe Beitrag „Genial daneben“) als für seine Genialität als Physiker.

Zilles hält es generell für problematisch, aus Einzelfalluntersuchungen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Außerdem bemängelt er, dass die Anatomen zwangsläufig nur tote Gehirne analysiert hätten: „Das menschliche Gehirn zeichnet sich durch seine neuronale Plastizität aus: Die neuronalen Verbindungen verändern sich im Laufe eines Menschenlebens ständig. Wenn man eine außerordentliche Leistungsfähigkeit lokalisieren will und hierfür das Gehirn eines Verstorbenen untersucht, muss man sicherstellen, dass der zum Zeitpunkt seines Todes die entscheidenden Leistungen überhaupt noch erbringen konnte. Bei Einstein, der seine Relativitätstheorie Jahrzehnte vorher entwickelte, ist dies fraglich.“

Trotzdem haben Forscher immer wieder versucht, von einem toten Gehirn auf seinen hochbegabten Besitzer zu schließen. Als Begründer der „Elitegehirnforschung“ gilt der Hirnanatom Franz Joseph Gall. Er legte in Wien um 1800 eine Sammlung von Schädeln berühmter Zeitgenossen an und entwickelte eine Lehre vom Schädelbau wissenschaftlicher und künstlerischer Genies. Kernthese: Die Brillanz des Denkers spiegele sich in Beulen des Gehirns wieder und die Dicke des Schädels entspreche der Intelligenz seines Trägers.

1924 zerlegte der deutsche Hirnforscher Oskar Vogt das Gehirn Lenins auf Wunsch der sowjetischen Regierung in 30 000 Schnitte und analysierte es in jahrelanger Arbeit mikroskopisch. Er glaubte die „außergewöhnliche Assoziationsfähigkeit“ Lenins an der besonderen Zellarchitektur seines Gehirns ablesen zu können.

Vom heutigen Forschungsstandpunkt aus gesehen sind diese Ergebnisse Humbug. Genialität lässt sich nicht an Größe oder Gewicht des Gehirns festmachen. Darin sind sich die Forscher inzwischen einig.

Doch was Genialität überhaupt ist, darüber streiten sie sich weiter. „Der Geniebegriff ergibt sich aus dem gesellschaftlichen Kontext“, meint zum Beispiel Prof. Udo Schuhmacher vom Institut für Anatomie der Universität Hamburg-Eppendorf. „Denn ob der Besitzer eines Gehirns als genial bezeichnet wurde, hing weniger von objektiven Kriterien ab als vielmehr vom Zeitgeist der jeweiligen Epoche.“ Anika Fiebich

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Brun|nen|moos  〈n. 11; unz.; Bot.〉 im Wasser flutende Moose mit meist langen u. verzweigten Stängeln: Fontinalis

ob|ses|siv  〈Adj.; bes. Psych.〉 zwanghaft

abmi|schen  〈V. t.; hat; Tontech.〉 mixen, mischen ● Musik, Songs einer Aufnahme ~

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