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Gurus, Gaukler, Geisterstunden

Gesellschaft|Psychologie

Gurus, Gaukler, Geisterstunden
Quacksalber und selbst ernannte Heiler können sich auf dem Psycho-Markt weitgehend unbehelligt tummeln. Nur wer mit den Krankenkassen abrechnen will, muss sich der wissenschaftlichen Überprüfung stellen.

Im Therapieraum einer Schweizer psychologischen Praxis lag der Patient mit dem Gesicht nach unten auf der Matratze. Seine Aggressionen hatten zugenommen, er keuchte und schien einen inneren Kampf auszufechten. Da legte sich Therapeut X., wie er im Gerichtsurteil genannt wurde, quer über den 30-jährigen Mann, um „ einen Tunnel als symbolischen Widerstand zu bilden“.

Der Patient schlug mit den Füßen wild um sich, worauf sich auch noch Therapeut Y über ihn legte. „Höret uf ihr Arschlöcher“, brüllte das Opfer mehrmals. Y belehrte ihn, zum Aufhören müsse er das vereinbarte Codewort „Stopp“ sagen. Das tat der Patient nicht, worauf die Behandler die wütenden Hilfeschreie als Teil des therapeutischen Prozesses deuteten und ihn weiter nach unten drückten.

Als der Mann nach einigen Minuten erschlaffte, meinte X nur, diesen Weg der Gegenwehr kenne er von ihm bereits. Erst als nach einer Weile immer noch keine Reaktion kam, stellten die Therapeuten fest, dass der Wehrlose nicht mehr atmete.

Beide wurden wegen fahrlässiger Tötung zu einer Woche Gefängnis auf Bewährung, je 2000 Franken Geldstrafe und Schadensersatzzahlungen an die Witwe und Kinder des Opfers verurteilt. Einsicht zeigten die Therapeuten keine – sie klagten auf Freispruch. Diesen Wunsch schmetterte das Schweizer Bundesgericht in Lausanne im Jahr 2000 ab.

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Im amerikanischen Bundesstaat Colorado wurde 2001 nach einem ähnlichen Vorfall gleich eine ganze Therapie verboten, das so genannte Rebirthing. Dort wurde bei der symbolischen Wiedergeburt die zehnjährige Candace von zwei Therapeutinnen und ihren zwei Assistenten erdrückt. Derart fatale Folgen hat Psychotherapie nur sehr selten. Doch dubiose Verfahren existieren viele. Da gibt es die „Reinkarnationstherapie“, bei deren Absolventen gelegentlich Psychosen diagnostiziert wurden. Und was „Hakomi“, „Neubeelterung“ oder „Core-Energetik“ für Folgen nach sich ziehen können, weiß niemand so genau.

Der Psychomarkt ist unüberschaubar geworden. Der Psychologe Gerhard Hellmeister von der Universität Jena zählte bei 200 Interviews mit Menschen, die ihr Glück bei alternativen Heilverfahren gesucht hatten, nicht weniger als 104 verschiedene Methoden.

Zusammen mit dem Institut für Grenzgebiete der Psychologie in Freiburg versuchte Hellmeister im Auftrag der Bundestags-Enquetekommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ die Gepflogenheiten der Szene zu erhellen. Nach ihren Erkenntnissen hat sich ein großer Teil der selbst ernannten Therapeuten diese Verfahren selbst beigebracht oder irgendwo privat gelernt. Für ihre Dienste berechneten die Gurus zwischen 0 und 400 Euro pro Besuch. Im Schnitt wurden die – zu 69 Prozent weiblichen – Kunden 1000 Euro jährlich los.

Die fragwürdige Qualifikation der Therapeuten wäre weniger tragisch, wenn ihre Kunden stabile Menschen wären, die Selbsterfahrung oder Bewusstseinserweiterung suchen. Doch die meisten begeben sich wegen psychischer oder psychosomatischer Beschwerden in diese Szene.

Zu den Hits des Psychomarkts gehört seit einigen Jahren das so genannte Neurolinguistische Programmieren, kurz NLP. Zahllose Ausbildungsinstitute produzieren Scharen von Absolventen, die meist keinerlei psychologische Vorbildung mitbringen. Ein NLP-„ Practitioner“ ist bereits nach 130 Stunden Ausbildung geschaffen, nach noch einmal 130 Stunden darf er sich „Master“ nennen.

Blitzschnell geht angeblich auch die Heilung. Er könne jede Phobie in fünf Minuten heilen, brüstete sich Richard Bandler. Der Mathematiker begründete das NLP in den siebziger Jahren zusammen mit dem Linguisten John Grinder. Die beiden analysierten die Sitzungen legendärer Therapeuten, behaupteten anschließend, sie hätten deren Geheimnisse entdeckt und könnten sie nun jedem beibringen.

Nach ihrer Theorie benutzen Menschen verschiedene Systeme, um Eindrücke und Erfahrungen zu verarbeiten, so genannte Repräsentationssysteme. Es gebe ein visuelles System, das mit bildlichen Vorstellungen arbeitet, ein auditives für Gehörtes und ein kinästhetisches, das neben Tastempfindungen auch noch für die Gefühle zuständig sei.

Psychische Probleme träten, so die NLP-Propagandisten immer dann auf, wenn Menschen nicht das richtige Repräsentationssystem für eine anstehende Aufgabe verwenden. So seien Kinder, die versuchten, mit Hilfe des auditiven Systems die Rechtschreibung zu meistern, also schreiben, was sie hören, verloren. Nur das visuelle System helfe da weiter – weil Wörter eben oft nicht so geschrieben wie gesprochen werden. So einfach ist das mit der Legasthenie.

Bei der Überprüfung in Experimenten schnitt die Theorie schlecht ab. Auch therapeutische Erfolge wurden nie belegt. „ Trotz mittlerweile jahrelanger Suche und der fortwährenden Provokation von NLP-Anhängern meinerseits ist mir bislang keine stichhaltige Untersuchung bekannt geworden, die einen Nachweis zu Gunsten des NLP erbracht hätte“, bilanziert Christoph Bördlein von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften.

Während sich die NLP-Propagandisten zumindest um einen wissenschaftlichen Anstrich bemühen, verzichtet der frühere Missionar Bert Hellinger auf rationale Erklärungen. Hellinger macht mit seinem so genannten Familien-Aufstellen Furore, das er weltweit in großen Sälen vor Hunderten von Zuschauern vorführt. Wer ein Problem hat, kommt auf die Bühne. Dort platziert er so genannte Stellvertreter für seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister und weitere Familienmitglieder auf ihm angemessen scheinende Positionen. Als Stellvertreter werden Unbekannte aus dem Publikum geholt. Und nun geschieht das Wunder: „Sie fühlen plötzlich wie die Personen, die sie vertreten, ohne diese zu kennen“, behauptet Hellinger. So komme „etwas bisher Verborgenes ans Licht“.

Hellinger postuliert auch eine „gemeinsame Seele“, die nicht nur Familienmitglieder bis hin zu tot geborenen Kindern und Urahnen erfasse, sondern auch eventuelle Opfer der Vorfahren. Die werden bei Bedarf ebenfalls per Stellvertreter auf die Bühne geholt.

Der Erfolg von Hellingers Geisterstunde ist enorm. Eine unbekannte, aber offenbar mindestens vierstellige Zahl von selbst ernannten Therapeuten hat seine Methode übernommen. Inzwischen distanzieren sich allerdings die ersten Gefolgsleute – nicht von der irrationalen Methode, aber von Hellingers Art, sie zu praktizieren. Ausgelöst haben die Absetzbewegungen kritische Medienberichte, vermutet der Münchner Psychologe und Hellinger-Kritiker Colin Goldner.

In Verruf gebracht hat Hellinger vor allem, dass sich ein eklatanter Fehler herumspricht, den er sich 1997 leistete. Bei einer Großveranstaltung in Leipzig verkündete er, die vier Kinder einer Ärztin seien bei ihr nicht sicher und gehörten zum Mann. Er fuhr fort: „Die Frau geht. Die kann keiner mehr aufhalten. Das kann auch Sterben bedeuten.“ Am nächsten Tag nahm die Ärztin sich das Leben.

Gefährlich ist offenbar auch ein anderes Ritual, das in den letzten Jahren um sich gegriffen hat – das so genannte Debriefing. Zum Einsatz kommt es bei Opfern von Unfällen und Katastrophen, vor allem auch bei den Hilfskräften. Kurz nach dem Einsatz sollen sie sich in einer häufig mehrstündigen Sitzung ihre oft traumatische Erfahrungen von der Seele reden.

Vor 20 Jahren von dem US-Militärpsychologen Jeffrey Mitchell vorgestellt, wurde Debriefing auch bei der Bundeswehr und deutschen Hilfsorganisationen populär. Doch womöglich schadet Debriefing mehr als es nutzt. Der Harvard-Psychologe Richard McNally bilanzierte vor kurzem, Studien hätten „die Wirksamkeit der Methode nicht bestätigt“. Einiges deute sogar darauf hin, dass „es die natürliche Erholung behindern könnte“.

Opfer von Verkehrsunfällen wurden in einer Untersuchung der University of Oxford mit einer Debriefing-Variante behandelt. Drei Jahre später ging es ihnen schlechter als Unbehandelten. Sie hatten mehr Angst zu reisen und zeigten mehr psychiatrische Symptome. Wer anfangs von traumatischen Erinnerungen verfolgt wurde, behielt sie. Unbehandelte dagegen erholten sich davon. ■

Jochen Paulus

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