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Antidepressiva: Doppelter Effekt

Gesundheit|Medizin

Antidepressiva: Doppelter Effekt
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Antidepressiva wirken nicht nur auf den Serotonin-Haushalt (Foto: skynesher/ iStock)
Seit 60 Jahren glaubt man zu wissen, wie gängige Antidepressiva wirken. Doch jetzt haben Freiburger Forscher einen zweiten, völlig unabhängigen Wirkmechanismus entdeckt. Demnach beeinflussen die Medikamente nicht nur den Spiegel des Botenstoffs Serotonin im Gehirn, sie fördern auch die Bildung neuer Verknüpfungen zwischen den Hirnzellen. Dadurch normalisiere sie einen wichtigen Anpassungsprozess an Stress, der bei depressiven Menschen schlechter funktioniert.

In Deutschland leiden mehr als vier Millionen Menschen an einer Depression. Jeder Zehnte durchlebt einmal im Leben eine schwere depressive Episode. Eine Depression kann dabei in jedem Alter auftreten, erstmalig am häufigsten zwischen 20 und 30 Jahren. Die Betroffenen fühlen sich niedergeschlagen, antriebs- und interesselos. Sie schlafen meist schlecht, ermüden schnell und sind oft unfähig, Gefühle zu empfinden. Schwer betroffene Patienten können suizidgefährdet sein. Die Behandlung erfolgt gemäß Leitlinien psychotherapeutisch, bei einer schweren depressiven Episode zusätzlich medikamentös. Denn seit den 1960er Jahren ist bekannt, dass im Gehirn depressiver Menschen zu wenig von dem Botenstoff Serotonin gebildet wird. Fast alle gängigen Antidepressiva hemmen daher dessen Recycling-Prozess, um so die Menge des verfügbaren Serotonins zu erhöhen. Die Medikamente werden deswegen als selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI, bezeichnet.

Doch ist dies wirklich alles, was die Antidepressiva im Gehirn bewerkstelligen? Claus Normann und seine Kollegen vom Universitätsklinikum Freiburg kamen nach ersten Vorstudien Zweifel daran. Sie hatten den Verdacht, dass dies nicht der einzige Wirkmechanismus dieser Medikamente ist. In Versuchen mit Mäusen fahndeten sie daher nach weiteren Effekten der SSRI-Mittel im Gehirn. Dafür verabreichten sie sowohl normalen Mäusen als auch Mäusen mit deaktiviertem Serotonin-Aufnahmemechanismus Antidepressiva. Bei Letzteren dürften die SSRI-Wirkstoffe nicht wirken, wenn sie nur den Serotoninhaushalt beeinflussen, wie die Forscher erklären. Anschließend setzen sie die Tiere Stress und Belastungen aus, die normalerweise ein depressionsähnliches Verhalten bei den Tieren auslösen. Sie beobachteten deren Verhalten und analysierten die Vorgänge im Gehirn der Mäuse.

Wirkung auch auf die Synapsenbildung

Das erstaunliche Ergebnis: „Zu unserer großen Überraschung zeigte sich auch bei Tieren ohne Serotonin-Transporter ein antidepressiver Effekt“, berichtet Normann. Offenbar gab es demnach tatsächlich einen vom Serotonin unabhängigen Wirkmechanismus bei den SSRIs. Aber welchen? Die Antwort fanden die Forscher, als sie das Gehirn der Tiere näher untersuchten. Um neue Reize zu verarbeiten und sich an Stress anzupassen, müssen immer wieder neue Nervenverknüpfungen im Gehirn gebildet werden. Bei Depressiven ist diese synaptische Plastizität jedoch schwächer als bei gesunden. „Wir haben entdeckt, dass die SSRI-Medikamente diesen Anpassungsprozess normalisieren, indem sie die Kalziumkanäle der Nervenzellen blockieren“, berichtet Normann. „Das verhindert eine stressbedingte Depression und hilft Tieren, die bereits depressionsähnliche Symptome zeigen. Unsere Studie zeigt deutlich, dass diese Blockade ein wesentlicher Wirkmechanismus von Antidepressiva ist.“

Diese Ergebnisse belegen, dass die Antidepressiva nicht nur den Hirnbotenstoff Serotonin beeinflussen. Sie schützen zusätzlich auch die synaptische Plastizität vor den Effekten von Stress und Depression – und damit einen zentralen Lern- und Anpassungsmechanismus des Gehirns. „Unsere Erkenntnisse können helfen, Medikamente zu entwickeln, die ganz gezielt den neu entdeckten Wirkmechanismus angreifen“, sagt Normann. „Das könnte Menschen helfen, bei denen bisherige Medikamente nicht oder kaum gewirkt haben. Denn fast alle Medikamente gegen Depressionen, die in den letzten Jahrzehnten auf den Markt kamen, waren lediglich geringfügige Abwandlungen der ursprünglichen Substanzen.“

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Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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