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Aufstieg der Seelenklempner

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Aufstieg der Seelenklempner
Keine Psychotherapie hilft bei allen seelischen Schieflagen. Für Ängste und Zwangserkrankungen gibt es eindeutig erfolgreiche Behandlungen. Die Seelenhelfer machen Fortschritte auf ihrem Weg in die Wissenschaft.

Der geniale Filmkomiker Woody Allen ist das klassische Negativbeispiel: Dauergast beim Psychoanalytiker – und immer noch der alte Stadtneurotiker. Psychotherapien helfen nicht, glaubt denn auch fast ein Drittel der Deutschen laut einer Repräsentativumfrage vom vergangenen Jahr. Doch es gibt Grund zum Umdenken. Psychotherapie hilft – das lässt sich neuerdings sogar mithilfe der Gehirnforschung nachweisen.

Wissenschaftler des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck haben Patienten mit Zwangsstörungen behandelt, die beispielsweise aus Angst vor Infektionen viele Stunden des Tages mit Händewaschen verbrachten. Das Ergebnis ihrer Therapie verfolgten die Wissenschaftler im Gehirn ihrer Patienten mit Hilfe von PET-Aufnahmen. Tatsächlich wurde bei der Behandlung dort mehr Serotonin verfügbar – ein Nervenbotenstoff, an dem es bei Zwangspatienten normalerweise mangelt.

Damit sei „erstmals belegt, dass Psychotherapie auch auf neurobiologische Systeme des Gehirns wirkt“, frohlockte Prof. Fritz Hohagen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Auch Prof. Josef Aldenhoff, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Kiel, bewies am Beispiel von Depressionen, dass bei psychischen Erkrankungen Worte das gestörte biochemische System im Hirn verändern. Gute Psychotherapie ist wirksam – das belegen inzwischen Tausende von Studien. Im Vergleich mit vielen somatischen medizinischen Behandlungen steht die Psychotherapie sogar überraschend gut da (siehe Kasten „Besser als manche andere Medizin“ auf S. 64).

Aber wer braucht einen Seelenheiler? Zehn Prozent der Deutschen haben schon einmal eine Psychotherapie gemacht, ermittelte vergangenes Jahr die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Auftrag der Apotheken Umschau. Wurden die alle von einer Geisteskrankheit heimgesucht? Oder halten viele Bundesbürger schlechte Stimmung und normale Lebensprobleme neuerdings schon für eine psychische Erkrankung?

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Letzteres suggeriert der Spiegel-Redakteur Jörg Blech in seinem vergangenes Jahr erschienenen Bestseller „Die Krankheitserfinder“. Als Beispiel dient ihm die „soziale Phobie“. Die Betroffenen haben in vielen Situationen Angst vor anderen Menschen – ob sie eine Rede halten oder nur nett auf einer Party plauschen sollen. „Wer litte nicht unter Lampenfieber?“, zweifelt Blech am Krankheitswert des Problems. Zum Massenphänomen, so der Buchautor, das jeden Achten betreffe, sei das Problem erst durch die PR-Anstrengungen des Pharma-Riesen SmithKline Beecham geworden, der den Absatz eines Mittels gegen Schüchternheit puschen wollte. Außerdem, klagt Blech, sei die früher strengere Krankheitsdefinition aufgeweicht worden. Jetzt würden alle als krank gelten, denen ihre Menschenscheu „ausgesprochene Schwierigkeiten“ bereite.

Richtig ist, dass extreme Schüchternheit von den Ärzten lange als nicht weiter bemerkenswert betrachtet wurde. Aber schließlich ist etwas nicht schon deshalb falsch, weil es die Pharma-Industrie sagt – und sind „ausgesprochene Schwierigkeiten“ kein Anlass, etwas zu tun?

Freilich ist nicht jedes Leid Grund für eine Therapie. So ist eine Zeit der Trauer nach dem Tod des Ehepartners völlig normal. Bei den meisten Menschen heilt die Zeit die Wunden. Therapie beschleunigt diesen Prozess nicht – im Gegenteil. In einer Studie „ging es alarmierenden 38 Prozent der Menschen, deren Trauer behandelt wurde, schlechter als den Unbehandelten“, warnt der Psychologie-Professor George Bonanno von der Columbia University in New York. Erst wenn der Kummer chronisch wird, ist eine Therapie nötig.

Letztlich entscheidet immer die Schwere und Dauer des Leidens darüber, ob eine Behandlung erforderlich ist. Bei der Entscheidung helfen können Selbsttests, wie sie im Internet etwa beim „Kompetenznetz Depression“ (Adresse siehe Community-Kasten, S. 59) zu finden sind. Zusätzlich empfiehlt sich aber eine Abklärung beim Arzt. Allerdings scheuen viele Menschen den Gang zum Spezialisten. Fast 40 Prozent wäre es nach der GfK-Umfrage „ ausgesprochen peinlich“, wenn Nachbarn und Bekannte erfahren würden, dass sie sich in eine Psychotherapie begeben haben. Grund dafür besteht kaum: Im Zweifelsfall geht es den Nachbarn und Bekannten auch nicht besser. Psychische Probleme sind so normal wie körperliche.

Gerade wurden die Ergebnisse der „European Study of the Epidemiology of Mental Disorders“ veröffentlicht. Für diese Studie hat ein europäisches Forscherteam über 21 000 repräsentativ ausgewählte Teilnehmer aus Deutschland und fünf anderen EU-Ländern befragt. Demnach haben 14 Prozent schon einmal an einer Depression oder einer anderen Gemütserkrankung gelitten, 13,6 Prozent an einer Angststörung und 5,2 Prozent an einer Alkoholerkrankung.

Solche psychischen Probleme werden viel zu selten behandelt. Nur 40 Prozent der Deutschen, die unter Ängsten leiden, erhalten überhaupt eine Therapie – und die besteht meist in Psychopharmaka vom Hausarzt. Dieses niederschmetternde Resultat erhielt der Psychologie-Professor Jürgen Margraf, als er vor ein paar Jahren 3000 Bundesbürger befragen ließ. Der schnelle Griff zur Pille ist typisch, aber problematisch:

• Bei schweren, stark biologisch bedingten Erkrankungen wie der Schizophrenie oder der manisch-depressiven Störung führt kein Weg an Pillen vorbei, darin sind sich alle Fachleute einig.

• Bei Depressionen werden zwar meist Medikamente verordnet. Doch Psychotherapie hilft zumindest bei leichteren Fällen genauso gut.

• Bei Ängsten ist Psychotherapie das Mittel der Wahl – insbesondere die Verhaltenstherapie. Ihre Vertreter klettern mit Höhenphobikern auf Kirchtürme oder setzen Flugängstliche in Kleinflugzeuge.

Die Überlegenheit der Psychotherapie lässt sich auch am Beispiel der Zwangsstörungen zeigen, die lange als schwer zu behandeln galten. Medikamente und Verhaltenstherapie bessern solche Probleme zunächst gleich gut. Das hat gerade eine Forschergruppe um den Psychiater Andreas Kordon von der Universitätsklinik Schleswig-Holstein gezeigt. Doch Patienten, die Pillen schlucken, dürfen damit nicht aufhören, sonst erleidet über die Hälfte einen Rückfall. Von der Lübecker Verhaltenstherapie-Gruppe waren dagegen 80 Prozent über die Nachuntersuchungszeit von zwei Jahren rückfallfrei. Zusätzliche Medikamente hatten keinen zusätzlichen Nutzen.

Wer sich für eine Psychotherapie entscheidet, sollte allerdings die richtige wählen. Denn die verschiedenen Methoden unterscheiden sich in ihrem Erfolg stark (siehe Kasten „Was hilft wann?“ auf S. 63). Das beweist eine neue Vergleichsstudie, deren überwiegend peinliche Ergebnisse bislang nicht offiziell veröffentlicht wurden: Für die Untersuchung wurden über 200 Patienten mit Ängsten an 8 deutschen Psychiatrie-Kliniken behandelt. Zunächst ließ sich der Versuch nicht schlecht an. Am Ende der zumeist mehrmonatigen Therapie waren die Angststörungen der meisten Patienten deutlich zurückgegangen, auch ihre restlichen Probleme hatten sich gebessert. Doch ein Jahr später hatten die Ängste bei den Entlassenen fast aller Kliniken wieder zugenommen. Und der psychische Allgemeinzustand war sogar noch schlechter als bei der Aufnahme. Zwei Kliniken schnitten bei dieser Untersuchung allerdings wesentlich besser ab: Die Klinik Berus im gleichnamigen saarländischen Ort und die Christoph-Dornier-Klinik in Münster. Die Münsteraner erzielten hervorragende Resultate. Wer dort therapiert wurde, hatte auch ein Jahr später praktisch keine Angstprobleme mehr, die restlichen psychischen Auffälligkeiten waren ebenfalls dauerhaft verschwunden.

Die beiden „siegreichen“ Kliniken setzen auf die Verhaltenstherapie, bei der die Patienten über bewusstes „ Selbst-Tun“ etwas lernen. Die praktizierten Übungen sind bei der Behandlung von Ängsten „unverzichtbar“, kommentiert Studienorganisator Markus Bassler, inzwischen ärztlicher Direktor der Klinik Schömberg im Schwarzwald. Die „Verlierer-Kliniken“ orientierten sich dagegen an der Psychoanalyse, wo Reden seit Freud über Tun geht.

Auch bei Zwängen bekommen Patienten häufig die falsche Therapie. Ähnlich wie bei Angststörungen wäre eine „ Konfrontationsbehandlung“ sinnvoll: Unter Anleitung des Psychologen übt ein Patient immer wieder, sich Schmutz und Keimen auszusetzen oder sich in Menschenmassen zu bewegen. So erfährt er, dass die befürchtete Katastrophe ausbleibt.

Diese wissenschaftlich überprüfte und hoch effiziente Psycho-Technik haben Verhaltenstherapeuten entwickelt. Doch in der Praxis, so ermittelte Prof. Hans Reinecker von der Universität Bamberg, wenden 28 Prozent der Therapeuten die Konfrontationsmethode nicht an und die meisten anderen nur in der eigenen Praxis. Neben solchen Fehlern fand Reinecker abenteuerliche Geschichten – etwa die einer Patientin, die unter dem Zwangsgedanken litt, sie könnte ihre Kinder töten. Der Leiter der psychiatrischen Abteilung eines bekannten Krankenhauses riet ihr: „Bloß nicht daran denken!“.

Dabei ist auf dem Papier alles geregelt. Psychotherapie wird „ mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren“ ausgeübt, bestimmt Paragraph 1 des vor fünf Jahren in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetzes. Was als wissenschaftlich anerkannt gilt, klärt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärzte- und der Bundespsychotherapeutenkammer. Der Rat hat bislang nur der Verhaltenstherapie, der Gesprächspsychotherapie sowie einer zeitlich abgespeckten Psychoanalyse den wissenschaftlichen Segen erteilt (siehe Kasten links „Was hilft wann?).

Ein Gütesiegel für die klassische Langform der Psychoanalyse mit 300 und mehr Therapiestunden steht bislang aus. 20 bis 70 Stunden müssten nach den Erkenntnissen der modernen Therapieforschung in aller Regel ausreichen. Die langen Psychoanalysen für einige wenige Patienten verschlingen 43 Prozent des gesamten Etats für ambulante Psychotherapie.

Eine zweifelhafte Investition sind auch die Ausgaben für die „ Systemische Therapie“ (siehe Kasten linke Seite „Der Therapie-Dschungel“). In fast allen Kliniken für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen gibt es systemische Therapeuten, in vielen geben sie den Ton an. Die Popularität des Verfahrens half vor dem Wissenschaftlichen Beirat wenig. Die von 19 Universitätsdozenten und 17 Chefärzten zusammengestellten Studien wiesen „erhebliche methodische Mängel“ auf, hieß es im Beirat-Gutachten. Mal waren die Patientenzahlen zu gering, mal fehlten exakte Diagnosen der Patienten. Nur eine der Untersuchungen bezog sich auf deutsche Verhältnisse, mehrere befassten sich mit lateinamerikanischen Familien in den USA.

Angesichts der dürren Beweislage forderte der Wissenschaftliche Beirat die Ärztekammern auf, die Systemische Therapie aus der medizinischen Weiterbildung zu streichen. Die systemischen Therapeuten konnten sich das negative Verdikt nur mit dem angeblichen „wissenschaftstheoretisch überholten Reduktionismus“ des Beirats erklären.

Gelegentlich zeigen sich Psychotherapeuten aber lernfähig. Aufgrund der blamablen Vergleichsstudie zur Angstbehandlung führen jetzt auch psychoanalytisch orientierte Kliniken Übungen zur Angstkonfrontation ein. Studienleiter Bassler hält dies für „ einen deutlichen Fortschritt“. ■

jochen Paulus arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Frankfurt am Main und ist ständiger Autor von bdw. Sein Interesse gilt vor allem psychologischen Themen rund um das menschlichen Verhalten in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen.

Jochen Paulus

Ohne Titel

Es gibt Hunderte Arten von Psychotherapie. Die wichtigsten lassen sich in vier große Gruppen einteilen:

Die Psychodynamische Therapie schließt die klassische Psychoanalyse und ihre kürzeren Varianten ein. Sie waren in Deutschland viele Jahrzehnte lang gleichbedeutend mit Psychotherapie. Psychoanalytiker suchen die Ursachen von psychischen Problemen in unbewussten Konflikten, deren Wurzeln häufig in der Kindheit liegen sollen. Freie Assoziation des Patienten soll helfen, ihnen auf die Spur zu kommen. Bei der so genannten Übertragung projiziert der Patient Gefühle auf den Analytiker, die eigentlich dem Vater gelten. Diese Wiederbelebung alter Probleme wird dann therapeutisch genutzt.

Die Verhaltenstherapie wird seit 1987 von den Krankenkassen bezahlt. Verhaltenstherapeuten beschäftigen sich weniger mit unbewussten Ursachen eines Problems, sondern ihnen geht es vor allem um die Lösung des akuten Problems. Dazu haben sie unterschiedliche Techniken entwickelt. Mit Depressiven suchen sie nach Beschäftigungen, die ihnen noch Freude machen. So trainieren sie mit ihnen, langsam wieder am Leben teilzunehmen. Mit Ex-Alkoholikern üben sie, in der Kneipe zu sitzen und Mineralwasser zu bestellen. Mit Höhenangst-Patienten steigen sie auf Aussichtsplattformen.

Die Gesprächspsychotherapie zählt zu den so genannten humanistischen Verfahren. Sie wurde Mitte des vorigen Jahrhunderts von dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers entwickelt. Nach Rogers besitzt der Mensch die natürliche Tendenz, seine Möglichkeiten zu entwickeln. Probleme entstehen, wenn er daran gehindert wird. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, den Patienten bedingungslos so zu akzeptieren, wie er ist. So hilft er dem Patienten, sich selbst zu verwirklichen. Die Gesprächspsychotherapie wurde vorletztes Jahr vom Wissenschaftlichen Beirat anerkannt.

Die systemische Therapie stützt sich auf Erkenntnisse und Begriffe der Kybernetik. Ihre Vertreter glauben, dass menschliche Probleme nur mit Blick auf ein ganzes System verstanden werden können, meist die Familie. Deshalb wird sie häufig auch Familientherapie genannt. Die systemische Therapie verwendet spezielle Techniken – etwa die „paradoxe Intervention“: Die Familie soll ein problematisches Verhalten auf die Spitze treiben. Die systemische Therapie wird vom Wissenschaftlichen Beirat ausdrücklich nicht anerkannt.

Therapeuten, die in einem anerkannten Verfahren ausgebildet sind, erhalten – für die limitierten Plätze – eine Approbation und können mit den Krankenkassen abrechnen. Sie sind im Telefonbuch unter „Ärzte“ zu finden. Fachgesellschaften und Ärztekammern stellen im Internet Datenbanken mit Adressen bereit (siehe Community-Kasten auf S. 59).

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