Prothesen mit Gefühl sollen amputierten Menschen die Eigenempfindung in ihren verlorenen Gliedmaßen zurückgeben. Erstmals haben Forscher nun eine solche Neuroprothese für oberhalb des Knies Amputierte entwickelt. Das mit Tastsensoren ausgestatte Ersatzbein ist über Elektroden mit dem Nervensystem der Patienten verbunden und lässt sie so wieder Kniebewegungen und den Boden unter ihren Füßen spüren. Dabei scheint das neue Beingefühl die Prothese wie einen Teil des eigenen Körpers wirken zu lassen. Es wird weniger als “Anhängsel” wahrgenommen und macht die Bewegung im Alltag so deutlich leichter, wie das Team berichtet.
Das Knie beugt und streckt sich, die Füße berühren den Boden: Gesunde Menschen spüren ihre Beine bei jedem Schritt – und das ist gut so. Denn unser Nervensystem nutzt diese sensorischen Rückmeldungen, um die Muskeln präzise zu steuern. Wer eine Beinprothese tragen muss, dem fehlen genau diese Rückmeldungen jedoch. Gängige Prothesen können amputierten Menschen zwar das Laufen ermöglichen, ihnen aber kein Gefühl vermitteln. Als Folge wissen Betroffene oft nicht genau, wo sich ihr Ersatzbein gerade befindet und wie es sich bewegt. Sie vertrauen der Prothese daher nicht, sind unsicher beim Gehen, fallen häufig oder belasten ihr intaktes Bein zu stark. Auch auf die Psyche wirkt sich das fehlende Gespür negativ aus – die Prothese wird dadurch noch stärker als nicht zum eigenen Körper gehörig wahrgenommen.
Um dies zu ändern, arbeiten Forscher inzwischen an Prothesen, die Amputierten diese Eigenempfindung zurückgeben sollen. Francesco Petrini von der ETH Zürich und seinen Kollegen ist dabei nun ein entscheidender Erfolg geglückt: Sie haben die erste Prothese mit Gefühl für oberhalb des Knies Amputierte entwickelt. Ihre Neuroprothese lässt diese Menschen wieder Kniebewegungen und den Boden unter ihren Füßen spüren. Wie funktioniert das? Damit die Amputierten ihre Prothese fühlen können, werden ihnen winzige Elektroden direkt in einen Nerv im Oberschenkel implantiert – bei früheren Ansätzen wurden sie oftmals nur um den Nerv herum gewickelt. Diese Elektroden können mit der Prothese verbunden werden und Muster elektrischer Impulse an den Nerven übertragen. Signale empfangen die Elektroden dabei von Tastsensoren im Prothesenknie und einer speziellen Sohle unter dem künstlichen Fuß.
Laufen ohne nachzudenken
Die weiteren Schritte der Reizübertragung laufen ab wie bei anderen Menschen auch: Die Signale von den Nerven werden ans Gehirn weitergeleitet und ermöglichen so die Wahrnehmung und Steuerung der Bewegung. Wie gut dies in der Praxis klappt, testeten drei Beinamputierte über einen Zeitraum von drei Monaten – mit vielversprechendem Ergebnis. Die Probanden spürten tatsächlich, wo ihr Prothesenfuß berührt wurde oder wie stark das Knie gebeugt war. Und das half ihnen nach einer kurzen Eingewöhnungszeit spürbar beim Laufen: “Dank des künstlichen Beins mit Gefühl konnten die Amputierten unerwartete Hindernisse überwinden und schneller Treppen steigen. Diese beiden Aufgaben sind für Amputierte mit herkömmlichen Prothesen sehr schwierig, wenn nicht unmöglich”, berichtet Petrinis Kollege Stanisa Raspopovic.
Doch das ist noch nicht alles: Hirnscans und psychologische Tests belegten, dass die Neuroprothese das Gehirn weniger stark fordert und so mehr mentale Kapazität für andere Dinge bleibt. “Wir zeigen, dass weniger geistige Anstrengung nötig ist, um das bionische Bein zu kontrollieren, weil die Amputierten das Gefühl haben, dass die Prothese zu ihrem Körper gehört”, sagt Raspopovic. Im Alltag ist dies nicht nur für das psychische Wohlbefinden nützlich, sondern hat auch praktische Vorteile. Denn statt sich ganz aufs Laufen konzentrieren zu müssen, können die Betroffenen nun gleichzeitig andere Dinge denken oder tun. “Das war ein sehr interessantes Gefühl, wie mein eigenes Bein nach so vielen Jahren”, berichtet Proband Djurica Resanovic. “Du musst dich nicht konzentrieren, kannst nach vorne blicken und einfach losgehen. Du musst nicht schauen, wo dein Bein ist, um nicht zu fallen.”
Schlüssel für gute Neuroprothesen
Die Wissenschaftler sind sich sicher, dass ihre Art der Prothese in Zukunft vielen amputierten Menschen helfen kann und ihnen mehr Selbstvertrauen im Alltag schenkt. “Zuvor sind aber längere Studien mit mehr Teilnehmern nötig, um robustere Daten zum Nutzen der Prothese für die Gesundheit und Lebensqualität der Patienten zu erlangen”, sagt Petrini. Erfüllen sich die Erwartungen, könnten davon in Zukunft nicht nur oberhalb des Knies Amputierte profitieren – allein in Europa und den USA immerhin mehr als vier Millionen Menschen. “Wir glauben, dass intraneurale Elektroden auch für viele andere neuroprothetische Anwendungen der Schlüssel sind, um das Nervensystem mit gut nutzbaren Informationen zu versorgen”, so das Fazit von Mitautor Silvestro Micera von der École polytechnique fédérale de Lausanne.
Quelle: Francesco Maria Petrini (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich), Science Translational Medicine, doi: 10.1126/scitranslmed.aaw3163