Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Frühe Zelltode für die 3D-Sicht

Gesundheit|Medizin

Frühe Zelltode für die 3D-Sicht
visueller Kortex
Kronleuchterzellen (rot) und der für das dreidimensionale Sehen wichtige Bereich (grün) im visuellen Kortex einer Maus. (Bild: Bor-Shuen Wang/ Cold Spring Harbor Lab)

Beim räumlichen Sehen spielen sowohl die Gene als auch die Umwelt eine Rolle. Wie genau diese Faktoren zusammenwirken, haben Forscher nun an Mäusen untersucht. Noch bevor die neugeborenen Mäuse ihre Augen öffnen, werden demzufolge in der Hirnregion, die für die räumliche Wahrnehmung zuständig ist, zahlreiche Nervenzellen eliminiert. Ist der Prozess durch genetische Manipulationen gestört, haben die Tiere später Probleme mit der 3D-Sicht. Völlige Dunkelheit dagegen hat keinen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Sehfähigkeiten.

Damit wir räumlich sehen können, setzt unser Gehirn die Informationen beider Augen zu einem dreidimensionalen Gesamtbild zusammen. Die Verrechnung findet im visuellen Kortex statt, einer Hirnregion mit einem komplexen Netzwerk aus hemmenden und erregenden Nervenzellen. Grundlegend ist der Aufbau dieses Netzwerkes in unseren Genen festgeschrieben. Die Feinabstimmung erfolgt allerdings erst durch wechselseitige Einflüsse zwischen den verschiedenen Zellen: Bestimmte Verknüpfungen werden verstärkt, andere geschwächt oder abgebaut.

Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt

Wie genau Gene und Erfahrung bei der Entwicklung des räumlichen Sehens zusammenspielen, hat nun ein Team um Bor-Shuen Wang vom Cold Spring Harbor Laboratory an Mäusen untersucht. „Die Frage ist nicht, ob es sich um Gen- oder Umwelteinflüsse handelt – es ist eindeutig beides“, sagt Wangs Kollege Josh Huang. „Die Frage ist, wie sie sich gegenseitig beeinflussen.“ Um diese Frage zu klären, machten die Forscher mit Hilfe genetischer Veränderungen sogenannte Kronleuchterzellen im Gehirn von Mäusen sichtbar. Dabei handelt es sich um Nervenzellen, die weit verzweigt sind wie ein Kronleuchter und die Signale umgebender Nervenzellen hemmen. Während sie in den meisten Teilen des Gehirns gleichmäßig verbreitet sind, ist bekannt, dass sie im visuellen Kortex auffallend selten vorkommen.

Doch das gilt offenbar nicht für neugeborene Mäuse: Wie Wangs Team herausfand, befinden sich unmittelbar nach der Geburt noch deutlich mehr Kronleuchterzellen im visuellen Kortex der Tiere. Durch Signale von der Netzhaut werden diese Zellen innerhalb weniger Tage dezimiert. „Noch bevor die Mäuse zum ersten Mal ihre Augen öffnen, also noch vor den ersten Seherfahrungen, findet ein dramatischer Prozess statt, der diese Zellen eliminiert. Mehr als die Hälfte von ihnen wird getötet“, beschreibt Huang. Dabei senden die Zellen von der Netzhaut Signale, die letztlich zum programmierten Zelltod zahlreicher Kronleuchterzellen führen.

Voraussetzung für räumliches Sehen

Die Auslöschung vieler hemmender Nervenzellen sorgt nach Ansicht der Forscher dafür, dass die verbleibenden Zellen im visuellen Kortex die Bilder beider Augen effektiv verrechnen können. „Räumliches Sehen erfordert eine schnelle Kommunikation zwischen den beiden visuellen Hemisphären“, sagt Huang. „Wir vermuten, dass es dafür erforderlich ist, die Hemmung in der dafür zuständigen Hirnregion zu reduzieren.“ Um diese These zu überprüfen, veränderten die Forscher einige Mäuse genetisch so, dass bei ihnen mehr Kronleuchterzellen erhalten blieben. Und tatsächlich: Diese Tiere hatten später Probleme damit, räumlich zu sehen, während ihre sonstigen Sehfähigkeiten nicht eingeschränkt waren.

Anzeige

In einem weiteren Experiment ließen die Forscher neugeborene Mäuse in völliger Dunkelheit aufwachsen, sodass sie keinerlei visuelle Reize bekamen. Dennoch sendete ihre Netzhaut innerhalb der ersten zwei Lebenswochen die notwendigen Signale, um die überschüssigen Kronleuchterzellen im visuellen Kortex zu eliminieren. Das Abtöten von Kronleuchterzellen geschieht nach Ansicht der Forscher nicht zufällig, sondern abhängig von den eingehenden Signalen: Durch die Signale von der Netzhaut beginnen die Kronleuchterzellen, Verknüpfungen zu bilden. Diejenigen, die die falschen Verbindungen bilden, erliegen dem programmierten Zelltod.

„Der gesamte Ablauf der Gehirnentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem genetische Informationen eine wichtige Rolle beim grundlegenden Aufbau des Netzwerks spielen“, sagt Huang. „Aber später sorgen lern- und erfahrungsabhängige Prozesse für die Feinabstimmung. Das Phänomen, über das wir hier sprechen, liegt genau an der Schnittstelle von genetisch vorgegebenen und nutzungsabhängigen Mechanismen.“

Quelle: Bor-Shuen Wang (Cold Spring Harbor Laboratory) et al., Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2020.11.004

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ra|dio|in|ter|view  〈[–vju:] n. 15〉 Befragung durch Rundfunkvertreter (meist während einer Livesendung)

po|ly|syn|the|tisch  〈Adj.〉 vielfach zusammengesetzt ● ~e Sprachen 〈Sprachw.〉 ”einverleibende“ Sprachen, bei denen mehrere Satzteile zu einem einzigen Wort zusammengeschlossen werden, z. B. die Indianersprachen, Bantusprachen, Grönländisch; … mehr

Hy|per|ba|ton  〈n.; –s, –ba|ta; Rhet.〉 rhetor. Figur, bei der eine Wortgruppe (aufgrund der Metrik) syntaktisch umgestellt wird, z. B. ”Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen gewöhnlich aus dem Namen lesen“ (Goethe, Faust I); Sy Hyperbasis … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige