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Leidgeplagte Schnelldenker

Gesundheit|Medizin

Leidgeplagte Schnelldenker
Das Gehirn eines Menschen, der unter Migräne leidet, ist reaktionsbereiter als das anderer Menschen. Es ist quasi immer auf dem Sprung. Doch irgendwann nimmt das Gehirn sich eine qualvolle Auszeit. Jetzt haben Forscher die Ursachen in den Genen entdeckt.

Die Ampel zeigt rot. Zwei Pkw warten auf freie Fahrt. Beim Umspringen auf grün zieht der linke Wagen um Bruchteile von Sekunden früher los. Am Steuer sitzt eine Frau.

Was hat das mit Migräne zu tun? Eine ganze Menge, sagen Experten. Erstens sind die meisten Migräniker Frauen und zweitens sind Migräne-Kranke offenbar besonders reaktionsschnell. Ihr Gehirn nimmt Reize ungewöhnlich rasch wahr und verarbeitet sie auch sehr schnell. Das geschieht in aller Regel unbewusst, ohne dass die Betroffenen es merken. Doch das Gehirn von Migränikern ist stets aktiv. Es läuft ständig auf Hochtouren und saugt Reize auf wie ein Schwamm das Wasser. „Der Migräne liegt eine Übererregbarkeit des Gehirns zugrunde“, erklärt der Kopfschmerzexperte Dr. Stefan Evers, Privatdozent an der Universität Münster.

Diese Übererregbarkeit sichert Migränikern möglicherweise in ihrem Alltag so manchen Vorteil. Doch sie hat auch unangenehme Konsequenzen: Die Nervenzellen, die Neuronen, stehen bei Migräne-Kranken unter Dauerstress. In kürzester Zeit erhalten sie unzählige elektrische Impulse, bilden Botenstoffe, die so genannten Neurotransmitter, und stimulieren damit Nachbar-Neuronen. Sie feuern ihre Signale durch das Gehirn und steuern so die Reaktionen unseres Körpers. Das kostet Kraft. Wird eine Schwelle der Erregbarkeit überschritten, so sind die Neuronen erschöpft, regelrecht ausgebrannt. „Die Energiespeicher sind leer, das Gehirn braucht Erholung“, sagt Evers, Präsident des Deutschen Schmerzkongresses in Münster. Um nicht weiter überreizt und überfordert zu werden, blockt das Gehirn auf verhängnisvolle Weise ab: Es schüttet hemmende Botenstoffe aus – die aber im Hirn Entzündungsprozesse einleiten.

Für die Betroffenen macht sich das als Migräne-Attacke bemerkbar: starke, meist klopfende Kopfschmerzen auf einer Seite des Kopfes, Übelkeit bis hin zum Erbrechen und das Gefühl, weder Geräusche noch Licht ertragen zu können – das sind nur einige der charakteristischen Symptome. Sie treten zum Teil urplötzlich auf – weshalb oft von Migräne-Anfällen oder -Attacken gesprochen wird – und dauern typischerweise zwischen 4 und 72 Stunden. „Doch so manche Migräne kündigt sich durch Vorboten an. Viele Betroffene spüren schon Stunden oder sogar Tage zuvor, dass ihr Gehirn vor der Reizüberflutung zu kapitulieren droht“, erläutert Prof. Hartmut Göbel, Direktor der Schmerzklinik Kiel, das Krankheitsbild, das immerhin jeden Fünften hierzulande in regelmäßigen Abständen lahm legt. Migräne ist dabei nicht gleich Migräne, die einzelnen Attacken verlaufen oft unterschiedlich. Mal steht die Übelkeit im Vordergrund und mal der Kopfschmerz.

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Den Migräne-Attacken gehen oft visuelle oder andere sensorische Sinneseineindrücke voraus. So mancher Kollaps im Gehirn von Migränikern beginnt mit Seh- oder Gefühlsstörungen oder beidem. Die Kranken können Teile des normalen Bildes vor dem Auge nicht mehr ausmachen, sehen Lichtblitze und Lichtflackern, zunächst punktuell und dann sich über das gesamte Gesichtsfeld ausbreitend. Auch Kribbeln oder Taubheitsgefühle meist nur auf einer Körperhälfte sind typische Reaktionen, mit denen das Gehirn seiner Überforderung auszuweichen beginnt. Aura – so nennen die Mediziner die Lichterscheinungen und unterscheiden diese Migräne-Form von der Migräne-Variante ohne Aura.

Die Übererregbarkeit ist nach Ansicht vieler Forscher angeboren, das Chaos im Gehirn des Migränikers hat System. „Das zeigt sich vor allem bei der Form mit Aura und mehr noch bei der so genannten hemiplegischen Migräne“, sagt der Kieler Schmerzforscher. Hierbei handelt es sich um eine Sonderform, die zu Lähmungen führt und bei denen die Wissenschaftler jüngst einen eindeutigen Zusammenhang mit bestimmten Gen-Veränderungen aufgedeckt haben.

Hinweise darauf, dass Migräne vererbt wird, hatten Göbel und Kollegen schon lange: Es gibt regelrechte Migräne-Fami-lien, in denen gleich mehrere Angehörige unter der Krankheit leiden, während die Störung in anderen Familien fast nie auftritt. Bei der Suche nach den genetischen Ursachen machten die Forscher 1996 ihren ersten großen Fund: Sie entdeckten bei Menschen mit hemiplegischer Migräne einen Zusammenhang mit Mutationen eines Gens auf Chromosom 19.

Ob solche Mutationen zum Schnellstart an der Ampel befähigen, bleibt vorerst offen. Sicher ist, dass sie die Zellmembran der Nervenzellen verändern. In dieser „Haut“ der einzelnen Zellen befinden sich kleine Poren, durch die Ionen ein- und auswandern können, die so genannten Ionenkanäle. Sie steuern den Weg der elektrisch geladenen Teilchen in die Zelle und aus der Zelle heraus. „Das bei der hemiplegischen Migräne veränderte Gen kontrolliert einen speziellen Ionenkanal, durch den Kalzium-Ionen die Zellmembran passieren“, sagt Evers. Kalzium-Ionen regulieren maßgeblich die Erregbarkeit der Zellen – und damit schließt sich der Kreis. Denn die genetischen Befunde stützen die unter Forschern weitgehend akzeptierte Theorie, dass die Migräne auf eine Übererregbarkeit des Gehirns zurückgeht.

Dass die Reizüberflutung des Gehirns über die Erbanlagen programmiert ist, zeigen auch neue, jüngst beim Kongress der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft in Rom präsentierte Daten der beiden Neurogenetiker Giorgio Casari und Roberto Maroni aus Mailand. Sie haben ein zweites mit der hemiplegischen Migräne assoziiertes Gen auf Chromosom 1 identifiziert. Es handelt sich um das Gen ATP1A2, das ebenfalls für einen Ionentransport in der Zellmembran – und zwar für eine Natrium-Kalium-Pumpe – zuständig ist.

„Damit wird immer deutlicher, dass die Migräne eine Erkrankung ist, die auf einer Störung der Elektrolyt-Kanäle in den Membranen von Nervenzellen beruht“, ist die Schlussfolgerung von Evers beim Deutschen Schmerzkongress in Münster. „Überrascht sind wir darüber nicht. Denn auch andere neurologische Erkrankungen – wie die Epilepsie –, die ebenfalls durch anfallartig auftretende Symptome charakterisiert sind, beruhen auf Störungen in solchen Ionenkanälen.“ Klare Zusammenhänge finden sich bei den beiden identifizierten Genen allerdings nur bei der seltenen Form der hemiplegischen Migräne. „Die häufigeren Migräne-Formen werden von der Natur offenbar anders kodiert“, meint Göbel. Doch auch bei den üblicherweise auftretenden Migräne-Formen ist nach seiner Meinung ein genetischer Hintergrund wahrscheinlich.

Da die Symptome bei der Migräne sehr unterschiedlich sind und zudem von Migräne-Attacke zu Migräne-Attacke variieren, erwartet Göbel keine einfache Lösung: „Wir glauben nicht, dass es nur ein einziges so genanntes Migräne-Gen gibt. Die Erkrankung dürfte vielmehr auf mehreren Genen und deren Zusammenspiel basieren.“ Allerdings sind solche komplexen Ursachen schwerer zu entdecken als Fehler in nur einem Gen. Hier helfen Familienstudien weiter: In einem Projekt, das von der Deutschen Forschungsge- meinschaft und im Rahmen des Genomprojekts des Bundesforschungsministeriums gefördert wird, werden gezielt Familien untersucht, in denen mehrere Mitglieder an einer Migräne mit Aura leiden. „Denn der genetische Einfluss scheint bei dieser Migräne-Form größer zu sein als bei Migräne ohne Aura“, meint Göbel.

So zeigen frühere Erhebungen, dass diejenigen gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt ein doppelt so hohes Migränerisiko tragen, bei denen Verwandte ersten Grades an einer Migräne ohne Aura leiden. Erleben Verwandte ersten Grades gar eine Migräne mit Aura, so steigt das eigene Krankheitsrisiko sogar auf das Vierfache an.

Das Kiel-Bonner Team hat inzwischen bei 600 Migränikern aus mehr als 100 Familien mit mindestens einem betroffenen Geschwister- oder Elternteil gezielt nach genetischen Markern der Erkrankung gefahndet. Die Chromosomen 1 und 19, die Gene für die hemiplegische Migräne tragen, scheinen nicht für die Migräne mit Aura verantwortlich zu sein, dafür aber Chromosom 4. Hier steht ein Gen unter Verdacht, das für die Ausbildung von Glutamat-Rezeptoren auf Nervenzellen verantwortlich ist – die „ Antennen“ auf der Zelloberfläche, die den Botenstoff Glutamat erkennen und seine Botschaft in die Zelle weiterleiten. Die Befehle via Glutamat sind dabei immer die gleichen: Die Gehirn-Nervenzelle soll aktiver werden, sich stärker erregen – was erneut die aktuelle Theorie stützt, dass die Migräne auf einer Übererregbarkeit der Nervenzellen basiert.

Auffälligkeiten fanden die Schmerzforscher auch in einem Gen, das die Freisetzung von Tachykininen fördert. Das sind Botenstoffe, die ebenfalls die Erregung von Nervenzellen steuern und zugleich für Entzündungsvorgänge verantwortlich sind.

An der Übererregbarkeit des Gehirns bei Migränikern werden die neuen Forschungsergebnisse nichts ändern, solange sich die Ursache – also der oder die Gendefekte – nicht beheben lässt. Allerdings hoffen die Wissenschaftler, durch die neuen Erkenntnisse schwere Krankheitsverläufe frühzeitig erkennen zu können. Und sie könnten Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer Arzneimittel liefern, die zielgerichteter als bislang in die Abläufe der Migräne eingreifen – zum Beispiel, um dem Gehirn zu helfen, besser mit seinen Kräften Haus zu halten, Reize selektiver wahrzunehmen und nicht jedes Umschalten der Ampel auf grün mit einem rasanten Start zu beantworten. ■

CHRISTINE VETTER ist freie Medizinjourna- listin in Köln. Schmerzforschung ist ihr Spe- zialgebiet.

Christine Vetter

COMMUNITY

INTERNET

Homepage der deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft mit vielen weiteren Tipps und Links:

www.dmkg.de

Homepage der Neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik Kiel:

www.schmerzklinik.de

LESEN

Hartmut Göbel

ERFOLGREICH GEGEN KOPFSCHMERZEN UND MIGRÄNE

Springer Verlag, Berlin 2004

€ 19,95

Kontakt

Familien, in denen mindestens zwei Geschwister eine Migräne aufweisen und die an einer Studie teilnehmen wollen, können sich bei der Neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik Kiel anmelden unter der Telefonnummer 04 31 | 2 00 99 65 oder unter der E-Mail-Adresse kiel@Schmerzklinik.de

Postadresse:

Heikendorfer Weg 9–27

24149 Kiel

Ohne Titel

• Die Gehirne von Migräne-Kranken nehmen Fakten schneller auf und sind reaktionsschneller, aber auch ständig übererregt. • Die Ursachen sind Mutationen in den Genen, die für die Kommunikation der Nervenzellen zuständig sind.

Ohne Titel

Die Wechselwirkungen von Migräne, Genen und Medikamenten untersuchen Forscher der Neurologischen Universitätsklinik in Essen um Prof. Hans Christoph Diener. Konkret verfolgen sie drei Ansätze:

Zum einen interessiert die Essener Forscher, warum sich bei vielen Patienten, die beim akuten Migräne-Anfall häufig ein Schmerzmittel einnehmen, langfristig ein Dauerkopfschmerz entwickelt, während es bei anderen nicht geschieht.

Noch nicht verstanden ist ferner, warum bestimmte Patienten sehr gut auf Triptane – spezielle Anti-Migränemittel – reagieren, andere jedoch nicht.

Ein drittes Phänomen ist schließlich das Ansprechen auf Medikamente, die der Migräne vorbeugen sollen. Während sich so bei vielen Patienten die Anfalls- häufigkeit wie auch -schwere nachhaltig mindern lässt, gibt es ebenso Migräniker, die kaum auf solche Prophylaktika reagieren.

„Wir vermuten bei allen drei Phänomenen einen ausgeprägten genetischen Hintergrund“, sagt Diener. Um ihn zu erhellen, wollen die Forscher rund 30 000 Personen befragen, dabei unter anderem diejenigen herausfiltern, die unter mehr als zehn Migräne-Tagen pro Monat leiden und diese Personen über drei Jahre beobachten, um zu sehen, wer einen chronischen Kopfschmerz entwickelt. Anhand von Blutuntersuchungen soll dann geklärt werden, ob dieser Reaktion ein bestimmtes genetisches Muster zugrunde liegt.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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