Kurzsichtigkeit entsteht, wenn der Augapfel eines Kindes zu stark wächst – und die Ebene des schärfsten Sehens deshalb vor der Netzhaut liegt. Jetzt legt eine Studie mit knapp 300 Kindern nahe, dass bifokale Kontaktlinsen das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bremsen kann. Bei diesen Linsen wirkt der eigentlich für Weitsichtige gedachte Teil offenbar dem übermäßigen Wachstum des Augapfels entgegen. Nach drei Jahren hatte sich die Myopie der Kinder mit den Multifokallinsen um 0,45 Dioptrien langsamer verschlimmert als bei Kinder mit normalen, nur die Kurzsichtigkeit korrigierenden Linsen.
Die Zahl der Kurzsichtigen hat in den letzten Jahrzehnten weltweit stark zugenommen: In Deutschland sind rund 40 Prozent der Bevölkerung betroffen, in Asien sogar bis zu 90 Prozent. Meist entwickelt sich diese Myopie während der Kindheit und verschlimmert sich nach und nach, weil der Augapfel in dieser Phase mehr wächst als er sollte. Bei starker Kurzsichtigkeit wird dadurch die Netzhaut stark gedehnt und es besteht die Gefahr von Netzhautrissen, einer Netzhautablösung sowie Grauem und Grünem Star. Ursachen für die Kurzsichtigkeit sind neben einer genetischen Veranlagung auch zu häufiges nahes Lesen oder Fokussieren auf Bildschirme und ein Mangel an direktem Tageslicht. Studien zeigen, dass der UVB-Anteil des Sonnenlichts offenbar biochemische Prozesse anstößt, die das Augapfel-Wachstum bremsen.
Multifokal-Kontaktlinsen gegen das Augapfel-Wachstum
Um der zunehmenden Kurzsichtigkeit entgegenzuwirken, wird in Asien schon mit einem „verordneten“ Freigang für Schulkinder experimentiert. Auch Kontaktlinsen sollen dazu beitragen, das Wachstum des Augapfels bei Jugendlichen zu verlangsamen. Diese wirken bislang aber nur begrenzt. Eine effektivere Methode könnten nun Jeffrey Walline von der Ohio State University und seine Kollegen gefunden haben. Sie haben in einer klinischen Studie mit sieben bis elfjährigen kurzsichtigen Kindern untersucht, ob eine multifokale Kontaktlinse das Wachstum des Augapfels besser bremst als normale, nur zur Korrektur der Kurzsichtigkeit eingesetzte Linsen. „Erwachsene benötigen solche multifokalen Linsen, wenn ihre Augen nicht mehr gut auf Nahes fokussieren können – sie sind dann altersweitsichtig“, erklärt Walline. Bei den kurzsichtigen Kindern sollen die nahfokussierenden Bereiche der Kontaktlinsen auch das peripher einfallende Licht vor der Retina zum Bild konzentrieren – bei monofokalen Linsen liegt die Bildebene dieser Sehfeldanteile meist hinter der Netzhaut. Dieses Fokussieren des gesamten Lichts vor der Netzhaut soll dem Augapfel einen Reiz geben, nicht weiterzuwachsen.
Ob das funktioniert, haben die Forscher mit 287 Kindern getestet, die zu Beginn der Studie zwischen minus 0,75 und minus 5,00 Dioptrien hatten. Ein Teil der Kinder bekam dann weiche, multifokale Kontaktlinsen mit 2,50 Plus-Dioptrien im Randbereich, eine weitere Gruppe trug die Linsen mit 1,50 Plusdioptrien und die dritte Gruppe trug monofokale Linsen, die nur ihre Kurzsichtigkeit korrigierten. Die Kinder trugen die Kontaktlinsen tagsüber, so oft sie konnten. „Etwa die Hälfte der Siebenjährigen kommt sehr gut mit den Linsen klar“, berichtet Walline. „Bei den Achtjährigen sind es schon fast alle.“ Nach drei Jahren untersuchten die Wissenschaftler, wie sich Augäpfel und Kurzsichtigkeit bei den Kindern entwickelt hatten.
Deutlicher Bremseffekt auf die Kurzsichtigkeit
Die Auswertungen ergaben deutliche Unterschiede zwischen den drei Studiengruppen: Bei den Kindern mit den normalen Kontaktlinsen hatte sich die Kurzsichtigkeit im Schnitt um 1,05 Dioptrien verschlechtert, bei denen mit dem schwächeren Weitsichtigkeitsanteil um 0,89 und bei der Gruppe mit den 2,50 Plus-Dioptrien in der Linse nur um 0,60 Dioptrien. „Verglichen mit den monofokalen Linsen haben die Multifokal-Linsen demnach das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit um bis zu 43 Prozent verlangsamt“, sagt Co-Autor David A. Berntsen von der University of Houston. Parallel dazu war bei den Kindern mit den Kombi-Kontaktlinsen auch der Augapfel weniger stark gewachsen – im Schnitt um 0,23 Millimeter weniger als bei den Kindern mit den Monofokal-Linsen.
„Demnach haben die Multifokal-Linsen in den drei Jahren einen klaren Vorteil gebracht“, sagt Wallines Kollegin Lisa Jones-Jordan. „Allerdings sind nun noch weitere Studien nötig, um herauszufinden, wie lange die Multifokal-Linsen idealerweise getragen werden sollten. Zudem muss noch festgestellt werden, wie lange dieser Bremseffekt anhält, wenn die Kinder aufhören, diese Linse zu tragen.“ Eine Folgestudie dazu hat bereits begonnen. Sollten die Ergebnisse positiv ausfallen, könnte sich damit eine weitere Möglichkeit eröffnen, der weltweiten Kurzsichtigkeits-Epidemie Einhalt zu gebieten.
Quelle: Jeffrey Walline (Ohio State University, Columbus) et al., JAMA, doi: 10.1001/jama.2020.10834