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Uralte Zivilisationskrankheiten

Gesundheit|Medizin

Uralte Zivilisationskrankheiten
Schon unsere Vorfahren vor 12,5 Millionen Jahren hatten Karies. (Foto: J. Fuß et al., PLOS One: e0203307)

Sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Karies und Fettleibigkeit gelten als Symptome unserer modernen Gesellschaften. Tatsächlich aber sind diese Leiden erstaunlich alt. Fossilfunde aus Österreich und Italien zeigen: Schon unsere Vorfahren vor Millionen von Jahren hatten mitunter schlechte Zähne und futterten sich üppige Fettpolster an. Letzteres wurde durch eine bestimmte Genmutation begünstigt – eine damals sinnvolle Anpassung, die uns in Zeiten industriell gefertigter Nahrung jedoch oft zum Verhängnis wird.

Diabetes, Bluthochdruck, Fettleibigkeit und Karies: All diese Leiden gelten gemeinhin als typische Zivilisationskrankheiten, die eng mit unserem heutigen Lebensstil verknüpft sind. Der moderne Mensch isst zu fett, zu süß und zu viel und er bewegt sich zu wenig. Doch gibt es diese Erkrankungen wirklich erst, seitdem es „die Zivilisation“ gibt? Einige Indizien sprechen dafür, dass die Wurzel dieser Leiden viel weiter in die Vergangenheit zurückreicht. Denn nicht nur wir, auch Orang-Utans, Gorillas und Schimpansen sind anfällig für Übergewicht und Co. Wissenschaftler vermuten daher inzwischen, dass die menschliche Veranlagung für Zivilisationskrankheiten in der gemeinsamen Evolutionsgeschichte von Mensch und Menschenaffen begründet liegt. Genanalysen scheinen diese Theorie zu bestätigen: Im Gegensatz zu anderen Affen fehlt unseren nächsten lebenden Verwandten das Enzym Uricase – genauso wie uns. Dadurch kommt es zu einer vermehrten Anreicherung von Harnsäure im Blut und in der Folge auch zu einem Anstieg des Blutdrucks sowie zur Anreicherung von Körperfett. Der Konsum von Fruchtzucker kann diese Effekte noch verstärken.

Überraschender Kariesfall

Die genetische Mutation, die zum Verlust der Uricase führte, trat wahrscheinlich schon bei den letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Menschen vor 15 Millionen Jahren in Europa auf. Doch kam es dadurch tatsächlich zu Erkrankungen, die wir heute als Zivilisationskrankheiten kennen? Wissenschaftler um Jochen Fuß von der Universität Tübingen haben nun erstmals einen paläontologischen Beleg dafür entdeckt: Sie fanden an den 12,5 Millionen Jahre alten Knochen des Menschenaffen-Fossils Dryopithecus carinthiacus Hinweise auf einen Kariesbefall. „Dieser Befund war für uns sehr überraschend, da das Entstehen des Krankheitsbildes Karies bisher stets mit der Erfindung des Ackerbaus vor etwa 10.000 Jahren in Zusammenhang gebracht wurde“, erklärt Mitautorin Madelaine Böhme.

Die Forscher untersuchten die im österreichischen Kärnten gefundenen Knochen mithilfe der Mikro-Computertomographie sowie der Rasterelektronenmikroskopie und verglichen die Ergebnisse mit dem Zahnzustand von 311 freilebenden Schimpansen aus Liberia. Es zeigte sich: Karies war bei den Schimpansen selten und zudem deutlich schwächer ausgeprägt als bei dem fossilen Menschenaffen. Seine Zähne waren vielmehr in einem Zustand, der typisch für menschliche Zahnkaries im fortgeschrittenen Stadium ist. Damit schien klar: Dryopithecus musste Zeit seines Lebens viel zuckerreiche Nahrung aufgenommen haben – und zwar mehr als heutige Schimpansen. Um dies zu belegen, analysierten Fuß und seine Kollegen fossile Pollen aus den Ablagerungen am Fundort der Knochen. Dabei identifizierten sie mindestens neun Pflanzenarten, deren Früchte stark zuckerhaltig sind, darunter Wein, Maulbeere, Esskastanie sowie Vertreter von Kirsche und Pflaume. Zudem stießen sie auf 46 honigtragende Pflanzen – weitere mögliche Zuckerlieferanten.

Fettreserven für den Winter

Demnach stand Dryopithecus in neun bis zehn Monaten des Jahres Zucker als Energiequelle zur Verfügung: von März bis Dezember. Was aber lieferte ihm in den restlichen Monaten die nötige Energie? Während heutige Menschenaffen in Phasen von Fruchtknappheit junge Blätter als Notnahrung nutzen, war dies den europäischen Menschenaffen nicht möglich, wie die Wissenschaftler betonen. „Aufgrund der geringen Lichteinstrahlung beziehungsweise der kurzen Tageslänge gab es trotz nahezu tropischer Temperaturen in den nördlichen Mittelbreiten im Spätwinter keinen Blattaustrieb“, erklärt Böhme. „Um diese Hungerperiode zu überstehen, mussten unsere Vorfahren Fettreserven anlegen“, ergänzt Mitautor Gregor Uhlig von der Technischen Universität Dresden. Tatsächlich zeigten die Analysen, dass gerade die von Dryopithecus vermutlich am Ende der Wachstumsperiode im frühen Winter konsumierten Früchte einen erhöhten Fruchtzuckergehalt besitzen. Dies muss aufgrund des fehlenden Uricase-Enzyms unmittelbar zu einer vermehrten Bildung von Körperfett geführt haben.

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Dass die europäischen Menschenaffen tatsächlich substantielle Fettreserven anlegten, bestätigte schließlich eine Analyse des bisher einzigen kompletten Skeletts eines Menschenaffen aus Europa – dem acht Millionen Jahre alten Oreopithecus bamboli aus der Toskana: In seinem bis heute erhaltenen Weichgewebe fanden sich dicht gepackte Fettzellen, die in Größe und Form an weißes Fettgewebe heutiger Menschen erinnern. Solche Fettreserven könnten gemeinsam mit einem konstant erhöhten Blutdruck entscheidende Selektionsvorteile der Menschenaffen im Miozän Europas gewesen sein, wie das Team berichtet. Denn diese Voraussetzungen erlaubten körperliche Aktivität auch bei Nahrungsknappheit. „Eine vor Millionen von Jahren aufgetretene Mutation war somit maßgeblich dafür, dass frühe Menschenaffen Eurasien besiedeln und eine enorme Artenvielfalt hervorbringen konnten. Wir tragen noch heute ihr Erbe in uns. Dieser Vorteil ist jedoch in einer Welt industriell gefertigter Nahrungsmittel in ein Handicap umgeschlagen“, schließt Böhme.

Quelle: Jochen Fuß (Universität Tübingen) et al., PLOS One, doi: 10.1371/journal.pone.0203307

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