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Wie Milch Multiple Sklerose verstärken kann

Medizin

Wie Milch Multiple Sklerose verstärken kann
Normalerweise schmiegt sich das isolierende Myelin (schwarz) als kompakte Schicht eng um Nervenfasern. Bei MS wird diese Schicht vom Immunsystem angegriffen. © AG Prof. Kürten/Universität Bonn

Einer kritischen Verknüpfung auf der Spur: Eine Studie zeigt auf, warum der Konsum von Milchprodukten zu einer Verschlimmerung der Symptome bei Multipler Sklerose (MS) führen kann. Bei der neurologischen Autoimmunerkrankung kann demnach eine „Verwechslung“ eine Rolle spielen: Aggressive Überreaktionen auf ein Milchprotein richten sich dabei auch gegen einen Bestandteil der „Isolierschicht“ um Nervenzellen. Die Forscher haben diesen Zusammenhang im Tiermodell aufgezeigt, fanden aber auch Hinweise auf einen ähnlichen Mechanismus beim Menschen. Bestimmte Gruppen von MS-Patienten sollten daher Milchprodukte meiden.

Allein in Deutschland sind Schätzungen zufolge über 200.000 Menschen betroffen: Die MS ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen bei jungen Erwachsenen. Sie äußert sich durch Missempfindungen, Probleme beim Sehen bis hin zu Bewegungs-Störungen und im Extremfall können ausgeprägte Lähmungen auftreten. Es gibt allerdings sehr unterschiedliche Verlaufsformen und Ausprägungen der Autoimmunerkrankung. Verursacht werden die Symptome durch den Angriff des körpereigenen Abwehrsystems auf die fettähnliche Substanz, die Nervenfasern im Zentralnervensystem elektrisch isoliert. Die Schädigung dieser sogenannten Myelin-Ummantelung kann dann zu Kurzschlüssen und zu einer Beeinträchtigung der Reiz-Weiterleitung führen.

Die Ursachen der Entstehung von MS und die Faktoren der Krankheitsentwicklung sind komplex und bisher schwer zu erfassen. Klar scheint allerdings, dass eine Mischung aus genetischen Veranlagungen, umweltbedingten Faktoren und Verhaltensweisen die Grundlage von MS bildet. Auch der Ernährung kommt wohl eine erhebliche Rolle zu. Dabei wird bereits seit langem dem Konsum von Milchprodukten eine Bedeutung zugeschrieben. Dies bildete nun auch die Grundlage der Studie der Forscher um Stefanie Kürten vom Universitätsklinikum Bonn: „Wir hören immer wieder von Betroffenen, dass es ihnen schlechter geht, wenn sie Milch, Quark oder Joghurt zu sich nehmen. Deshalb entschieden wir uns, der Ursache dieses Zusammenhangs nachzugehen“, so die MS-Expertin.

Einem Zusammenhang auf der Spur

Um zu klären, welche Bestandteile der Milch für den Effekt verantwortlich sein könnten, führten Kürten und ihre Kollegen zunächst Versuche am Tiermodell durch. Wie sie erklären, kamen vor allem Eiweiße als Auslöser in Frage. Deshalb injizierten die Wissenschaftler Mäusen verschiedene Proteine aus Kuhmilch in Kombination mit bestimmten Verstärkersubstanzen. Anschließend untersuchten sie, inwieweit die Tiere Krankheitssymptome entwickelten, die mit MS in Zusammenhang gebracht werden können.

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Wie die Wissenschaftler berichten, wurden sie bei einem prominenten Milchprotein fündig: Casein. Wenn sie den Tieren diesen Inhaltsstoff zusammen mit einem Wirkverstärker verabreichten, zeigten einige Anzeichen von neurologischen Störungen. Elektronenmikroskopische Untersuchungen des Nervengewebes offenbarten dann: Bei diesen Tieren zeigte die Myelin-Schicht um die Nervenfasern im Zentralnervensystem Spuren von Schäden: Ähnlich wie bei MS-Patienten war die isolierende Hülle durchlöchert – offensichtlich ausgelöst durch die Casein-Gabe. „Als Grund vermuteten wir eine fehlgeleitete Immunreaktion – ähnlich wie bei MS-Kranken“, sagt Erstautorin Rittika Chunder. Daraus ergab sich ihr zufolge ein konkreter Verdacht: Es könnte eine Kreuzreaktivität vorliegen. „Die körpereigene Abwehr attackiert dabei eigentlich das Casein, zerstört aber auch Proteine, die an der Bildung des Myelins beteiligt sind“, so Chunder.

Wie die Forscher erklären, kann es zu Kreuzreaktivität kommen, wenn sich zwei Moleküle zumindest in bestimmten Teilen stark ähneln. Das Immunsystem verwechselt sie dann gewissermaßen miteinander. So ging das Team der Frage nach, was im vorliegenden Fall der Grund sein könnte. „Wir haben das Casein mit verschiedenen Molekülen verglichen, die für die Produktion von Myelin wichtig sind“, erklärt Chunder. „Dabei sind wir auf ein Eiweiß namens MAG gestoßen. Es sieht dem Casein in manchen Bereichen ausgesprochen ähnlich – so sehr, dass bei den Versuchstieren die Antikörper gegen Casein ebenfalls gegen MAG aktiv waren“, sagt die Forscherin. Auf diese Weise wurde das Myelin bei den behandelten Tieren offenbar destabilisiert.

Medizinische Bedeutung

Doch inwieweit lassen sich die Ergebnisse bei Mäusen auf Menschen mit MS übertragen? Um dazu Hinweise zu erhalten, gaben die Wissenschaftler in Laborversuchen Casein-Antikörper von Mäusen zu Proben von menschlichem Hirngewebe. Dabei bestätigte sich, dass sie sich dort an den Zellen anreicherten, die im Gehirn für die Myelin-Produktion verantwortlich sind. Zudem lieferte ein weiterer Befund Hinweise: Die für Antikörperproduktion zuständigen B-Zellen im Blut einiger MS-Kranker sprechen den Studienergebnissen zufolge oft stark auf Casein an. Somit zeichnet sich nun ab: Vermutlich haben die Betroffenen irgendwann durch den Konsum von Milch eine Allergie gegen Casein entwickelt. Sobald sie Milchprodukte zu sich nehmen, bildet das Immunsystem deshalb Antikörper gegen dieses Protein. Diese schädigen dann aufgrund der Kreuzreaktivität mit MAG auch die Myelin-Schicht um die Nervenfasern.

Die Wissenschaftler betonen, dass Milch nicht generell eine Rolle bei MS spielt – den Ergebnissen zufolge hat sie aber eine Bedeutung bei denjenigen MS-Kranken, bei denen es zu einer Reaktion auf Casein kommt. Offenbar ist dies für die Betroffenen nicht immer deutlich erkennbar. „Wir entwickeln momentan einen Selbsttest, mit dem Betroffene überprüfen können, ob sie entsprechenden Antikörper in sich tragen“, sagt Kürten. „Zumindest diese Subgruppe sollte auf den Konsum von Milch, Joghurt oder Quark verzichten.“

Doch wie die Wissenschaftler abschließend bemerken, impliziert der festgestellte Mechanismus auch, dass Milchkonsum mit einem höheren Risiko verbunden sein könnte, an MS zu erkranken. Denn sobald eine Immunantwort auf Casein entstanden ist, kann es theoretisch zu einer Kreuzreaktivität mit dem Myelin kommen. Das bedeute allerdings nicht, dass sich bei einer Überempfindlichkeit gegen Casein zwangsläufig eine Multiple Sklerose entwickle, betonen die Forscher. Dazu seien vermutlich noch weitere Risikofaktoren erforderlich. Dennoch lässt ein statistischer Zusammenhang aufhorchen, meint Kürten: „Studien zufolge sind die MS-Zahlen in Bevölkerungsgruppen erhöht, in denen viel Kuhmilch konsumiert wird.“

Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Fachartikel: PNAS, doi: 10.1073/pnas.2117034119

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