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Beihilfe zur Revolution

Industrie 4.0

Beihilfe zur Revolution
Die Maschine als Kollege: Der Kalrsruher Forscher Arne Rönnau entwickelt die technische Basis, damit Mensch und Roboter sicher und zielgenau zusammenarbeiten können. (Foto: Wolfram Scheible für bdw)

Die Digitalisierung der industriellen Fertigung ist eine Mammutaufgabe. Wissenschaftler zeigen in Forschungsprojekten auf, wie kleine und mittlere Unternehmen auf dem Weg zur Industrie 4.0 profitieren können

von MICHAEL VOGEL

Es ist mal wieder von Revolution die Rede. Diesmal im übertragenen Sinn, denn es geht um radikale Veränderungen in den produzierenden Unternehmen. Das Schlagwort: Industrie 4.0. Die Vision: eine schnellere und flexiblere Fertigung, ein höherer Grad an Automatisierung und neue Erlösquellen. Zogen in den vergangenen vier Jahrzehnten PC, Software und programmierbare Maschinen in die Produktion ein, so ist bei dem nun anstehenden Wandel nicht mehr der Computer die zentrale Technik, sondern die Vernetzung. Maschinen kommunizieren mit Maschinen und Sensoren, Sensoren mit Softwaresystemen, Roboter mit Menschen. Eine komplett digital gesteuerte Produktion gilt als die Idealvorstellung der Zukunft.

KOMPAKT
Im Labor lassen sich künftige Abläufe in der industriellen Fertigung bereits heute durchspielen – etwa die Zusammenarbeit von menschlichen Arbeitern und Robotern. So entwickeln Forscher die bestmöglichen Konzepte zur Umsetzung neuer Produktionstechnik.

Eine besondere Herausforderung ist dieser Umbruch für kleine und mittlere Unternehmen. Denn sie haben oft weder finanzielle noch personelle Ressourcen, um große Veränderungsprojekte zu stemmen. Dabei fehlt es nicht am Willen – vor allem nicht in der mittelständischen Industrie. Das belegen aktuelle Studien mit über 1000 Unternehmen: Schon heute steuert gut die Hälfte der Befragten die eigene Produktion zumindest in Teilen digital. Allerdings: Nur fünf Prozent haben bereits alles oder weitgehend alles digital vernetzt. Damit der Wandel zur Fertigung der Zukunft auch beim Mittelstand gelingt, der ja gemeinhin als das Rückgrat der deutschen Wirtschaft gilt, hat die Baden-Württemberg Stiftung das Forschungsprogramm „Industrie 4.0“ initiiert. Darin werden in mehreren Projekten Technologien und Szenarien erforscht, die einfache Wege in die Digitalisierung des Produktionsalltags aufzeigen. Zwei Forschungsprojekte – eines angesiedelt am FZI Forschungszentrum Informatik in Karlsruhe, das andere an der Universität Stuttgart und am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA – sind beispielhaft dafür.

Rücksichtsvolle Roboter

Was die Industrie 4.0 für die künftige Arbeit in Fabriken bedeutet, lässt sich in einem Labor des FZI gut beobachten: Auf einer Arbeitsfläche stehen mehrere identische Bauteile, auf denen jeweils eine Deckplatte mit einigen Schrauben zu befestigen ist. Am Rand des Tischs befindet sich ein Roboterarm, vor dem Tisch steht Arne Rönnau. Er steckt die Schrauben in die vorgesehenen Gewindelöcher, der Roboterarm zieht sie dann mit dem gewünschten Drehmoment fest. Das ist an sich nichts Besonderes. Doch der Roboter arbeitet nicht einfach Bauteil für Bauteil und Schraube für Schraube nacheinander ab – sondern er achtet darauf, dass er Arne Rönnau, der die Schrauben in beliebiger Reihenfolge in die Bohrlöcher verschiedener Bauteile steckt, nicht ins Gehege kommt. Egal wie sich sein menschlicher Kollege bewegt, der Roboter nimmt stets darauf Rücksicht. Rönnau ist Wissenschaftler am FZI. Der Ingenieur leitete das Projekt „KolRob“, das nach drei Jahren Laufzeit zu Ende ging.

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Arbeitsteilung mit Köpfchen: Eine intelligente dreidimensionale Überwachung des Arbeitsraums stellt sicher, dass sich menschliche Arbeiter und Kollege Roboter nicht gegenseitig in die Quere kommen. Das clevere System ist eine Entwicklung von Christian Jülg, Gabriele Bolano und Teamleiter Arne Rönnau (von links). (Foto: Wolfram Scheible für bdw)

„Wenn wir heute über Roboter in der Industrie reden, haben wir schnell die Roboter in der Automobilbranche vor Augen, die in weitgehend menschenleeren Hallen ihr Tagwerk verrichten“, sagt Rönnau. „Eine solche vollständige Automatisierung gibt es aber selbst in der Automobilindustrie nur im Rohbau und bei den Lackierstraßen. In allen anderen Bereichen ist weiterhin viel Handarbeit gefordert.“ Und das, da ist sich Rönnau sicher, wird auch künftig so bleiben: „Denn vieles ist nicht oder nur schwer automatisierbar – und wäre dann womöglich gar nicht wirtschaftlich.“

Der Nutzen steht im Vordergrund

Er und sein Team sind mit KolRob daher einen Schritt zurückgegangen. Statt einen Fertigungsprozess rundherum zu automatisieren, knöpften sich die Forscher dafür nur jene Einzelschritte vor, bei denen der Nutzen sofort erkennbar ist. Den Rest erledigt weiterhin der Mensch.

„So ein Schraub-Arbeitsplatz wie in unserem Labor ist hierfür ein gutes Beispiel“, sagt der Forscher. Für einen Roboter ist es nämlich ein Riesenaufwand, eine Schraube zu greifen und in die vorgesehene Bohrung zu stecken, für einen Menschen dagegen nicht. Umgekehrt kann ein Roboter die bereits in den Bohrungen steckenden Schrauben immer mit dem genau gleichen Drehmoment anziehen – und das zur Dokumentation auch sofort digital an ein Qualitätssicherungssystem melden. Ein Mensch dagegen kann zwar auch fast fehlerfrei schrauben, aber eben nicht zu 100 Prozent, weil er ermüdet oder abgelenkt sein kann.

Genormte Zusammenarbeit

„Seit 2016 gibt es eine international gültige Norm, die die direkte Zusammenarbeit von Roboter und Mensch ermöglicht“, sagt Rönnau. „Ein Roboter darf einen Menschen sogar berühren, weil die Norm festlegt, mit welchen Kräften und Impulsen das geschehen kann, ohne für den Menschen gefährlich zu sein.“ Man könne inzwischen also „zertifiziert sichere“ Roboter kaufen – ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zu den Lackier- und Schweißrobotern in der Automobilindustrie. Die arbeiten hinter Absperrgittern oder Laserschranken. Kommt einem Roboter ein Mensch zu nahe, schaltet er sich sicherheitshalber sofort ab.

Kameras wachen über den Arbeitsraum von Mensch und Maschine

Die FZI-Entwicklung dagegen nimmt Rücksicht auf den Menschen, was auch das Kürzel „KolRob“ ausdrückt. Das steht für „kollaborativer, intelligenter Roboterkollege“ – ein neuer Kollege für Facharbeiter des Mittelstands. Um das rücksichtsvolle Benehmen zu ermöglichen, überwachen Kameras den vollständigen Arbeitsraum von Mensch und Roboter. „Aus ihren Bildern ermittelt ein von uns entwickelter Algorithmus ständig dreidimensional Aufenthaltsort und Bewegungen des Menschen“, erklärt Rönnau. „Und er regelt vorausschauend die Bewegungen des Roboters, um Kollisionen zu vermeiden.“

Damit er den Menschen nicht behindert, sucht sich der Roboter selbstständig eine neue Aufgabe, zum Beispiel ein anderes Bauteil. Das geschieht quasi in Echtzeit: In weniger als einer Zehntelsekunde erkennt der Roboter, dass der Mensch im Weg steht, und plant seine Route blitzschnell neu. Eine Stärke des KolRob-Ansatzes ist auch der geringe Aufwand, mit dem sich auf diese Weise ein Arbeitsplatz teilweise automatisieren lässt – ein interessanter Aspekt mit Blick auf den Mittelstand.

Gefühl der Vertrautheit

Bei der technischen Umsetzung konnten die FZI-Wissenschaftler im Rahmen des Forschungsprojekts auch überraschende Verhaltensweisen bei den Menschen beobachten, die mit Robotern zusammenarbeiten: „Wenn jemand KolRob zum ersten Mal ausprobiert, agiert er sehr vorsichtig“, sagt Rönnau. „Doch da es nie zu Berührungen kommt, entsteht nach und nach eine Art von Vertrautheit: das Gefühl, im Team zu arbeiten.“ Die Forscher haben sogar festgestellt, dass die Rücksicht des Roboters manchmal zu weit geht: Wenn man immer wieder im Weg steht, würde ein menschlicher Kollege das irgendwann monieren. Der Roboter dagegen plant einfach jedes Mal um, ohne zu murren – und wird dadurch selbst am Arbeiten gehindert.

Ein kollaborativer Roboter muss also in gewissem Maß auch durchsetzungsfähig werden, etwa indem er durch maschinelles Lernen vorhersehen kann, was die nächsten Handlungen des Menschen sein werden. Dann kann er seine Routenplanung darauf ausrichten. Oder der Roboter muss dem Menschen signalisieren, was er als nächstes tun will. Da sieht Arne Rönnau weiteren Forschungsbedarf.

Neben solchen kollaborativen Arbeitsszenarien kommt in der Industrie 4.0 vor allem der Vernetzung große Bedeutung zu. Zwar gibt es so etwas bereits heute, doch sind diese Verknüpfungen – etwa zwischen mehreren Maschinen und einer übergeordneten Steuerungs- und Planungssoftware – reine Insellösungen: Sie funktionieren nur in einem bestimmten Unternehmen oder an einer Anlage. Mehr noch: Die Fertigungsbetriebe sind dabei auf die Produkte angewiesen, die es von Softwareherstellern, Maschinen- und Anlagenbauern gibt. Und häufig deckt sich das Angebot nicht mit den Bedürfnissen, die ein Industrieunternehmen bei der Vernetzung hat.

Suche nach der kleinen Lösung

Zwar ist mit Beratern und viel Geld vieles machbar, aber für kleinere Unternehmen oft zu teuer. Sie sind eher an einer schnell zu realisierenden „kleinen“ Lösung interessiert, mit der sich zumindest die brennendsten Probleme beheben lassen. Wissenschaftler des Fraunhofer IPA und des Instituts für Parallele und Verteilte Systeme der Uni Stuttgart hatten bei ihrem gemeinsamen Forschungsprojekt „MIALinx“, einem weiteren Projekt der Baden-Württemberg Stiftung im Programm Industrie 4.0, genau diese Problematik vor Augen.

Dominik Lucke verdeutlicht den Gedanken an einem Beispiel: „In jeder Fertigung gibt es Schaltschränke, über die sich die Maschinen und Anlagen elektrisch versorgen lassen.“ Diese Schaltschränke müssen über einen Lüfter gekühlt werden. Und: Damit die Elektronik im Innern dadurch nicht verschmutzt, wird die Luft gefiltert. „Da die Filter im Lauf der Zeit verschmutzen, müssen sie in einem festgelegten Turnus gewechselt werden“, erklärt Lucke.

Wartung nach Bedarf: Der „Manufacturing Integration Assistant“ MIALinx ermöglicht es, Maschinen, Sensoren und Softwaresysteme zu vernetzen – rasch und ohne Informatikkenntnisse. So lassen sich unnötige Inspektionen vermeiden. Im Bild: die Stuttgarter Forscher Emir Cuk, Dominik Lucke und Michael Luckert (v. l.). (Foto: Wolfram Scheible für bdw)

Ob die Filter dann wirklich schon so verdreckt sind, dass ihr Austausch notwendig ist, oder ob sie gar schon so schmutzig sind, dass die Elektronik im Schaltschrank unzureichend gekühlt wurde, lässt sich erst beurteilen, wenn man nachgeschaut hat. „Das klingt nach einem unbedeutenden Problem“, meint Lucke. „Aber in der Fertigung stehen mehrere Hundert Schaltschränke – da wird die Instandhaltung schnell zur Zeitfrage.“ Daher wäre es schlauer, wenn sich jeder Schaltschrank selbst melden würde, sobald er einen neuen Filter benötigt.

Eine SMS vom Sensor

Die Stuttgarter Forscher haben dafür eine nach modernen Kriterien gestaltete, webbasierte Informationsinfrastruktur entwickelt: MIALinx, den Manufacturing Integration Assistant. Darüber lassen sich rasch und auch ohne Informatikkenntnisse Sensoren, Maschinen und Softwaresysteme vernetzen. „In einem produzierenden Unternehmen könnte ein Facharbeiter, Meister oder Ingenieur die Vernetzung vornehmen“, sagt Lucke. Im Beispiel des Schaltschranks würde ein einfacher optischer Sensor die Verschmutzung des Filters regelmäßig überprüfen. Wenn ein Austausch ansteht, könnte er über die neu entwickelte Informationsinfrastruktur eine Nachricht aufs Diensthandy des Technikers und eine E-Mail an das Softwaresystem schicken, das alle Wartungsarbeiten erfasst. „In MIALinx muss dazu der Sensor mit seinem Profil einmal erfasst werden, um dann durch einfach anzulegende Wenn-dann-Regeln Alarm auslösen zu können“, erläutert Lucke. „Diese Regeln wären danach auch für andere Kommunikationsfälle im System hinterlegt, wären also wiederverwendbar.“

Im Labor haben Dominik Lucke und seine Kollegen ein Szenario mit MIALinx aufgebaut und ausgiebig getestet, um die Machbarkeit zu demonstrieren. Es handelt sich um zwei Sensorquellen: den Schaltschrank und eine Drehbank aus den 1950er-Jahren. „Wir haben uns bewusst für so eine alte Maschine entschieden, um zu zeigen, dass auch damit Industrie 4.0 machbar ist“, sagt Lucke. Das ist nötig, weil in der Industrie Maschinen ein bis zwei Jahrzehnte lang im Einsatz sind – und kein Betrieb seinen Maschinenpark komplett modernisiert, nur um ihn vernetzen zu können. Nachrüsten ist möglich, so die Botschaft der Forscher.

Die Zukunft muss nicht teuer sein

An der Drehbank kontrollieren Sensoren die Riemenspannung und die Drehzahl. „Kommt es zu Abweichungen von zuvor definierten Werten, schickt die Software eine E-Mail und eine Ampel springt von Grün auf Rot um“, sagt Lucke. „Auf der letzten Hannover Messe Industrie haben wir zudem die Überwachung einer Kühlmittelpumpe demonstriert, wie sie an Werkzeugmaschinen zum Einsatz kommt.“ Kurz vor dem offiziellen Projektende testen die Wissenschaftler MIALinx in einem Unternehmen unter realen Bedingungen. „Wir haben in Workshops, Seminaren und auf Messen sehr positive Reaktionen von Experten aus Unternehmen bekommen, die in der Fertigung arbeiten“, freut sich Dominik Lucke. „Sie fanden vor allem bestechend, wie einfach MIALinx sich handhaben lässt.“ Industrie 4.0 muss eben nicht kompliziert und teuer sein.

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