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„Germanien war keineswegs reiner Urwald“

Interview

„Germanien war keineswegs reiner Urwald“

In Kalkriese, dem Ort der Varusschlacht, ist man sich inzwischen sicher, auch Zeugnisse der Feldzüge des Germanicus gefunden zu haben. Derzeit untersuchen die Archäologen den germanischen Siedlungsraum um das Schlachtfeld herum. Mit Dr. Susanne Wilbers-Rost, Leiterin der Abteilung Archäologie in Museum und Park Kalkriese, sprach DAMALS-Redakteur Dr. Armin Kübler.

DAMALS: Antike Geschichtsschreiber wie Tacitus berichten, dass Germanicus bei seinen Feldzügen auch den Ort der Varusschlacht aufsuchte. Dort soll er die Überreste der 9 n. Chr. gefallenen Legionäre bestattet haben. Welche archäologischen Beweise gibt es dafür?

Wilbers-Rost: Wir haben in Kalkriese inzwischen acht Gruben mit Knochenresten gefunden. Die Gebeine stammen von Männern, Maultieren und Pferden. Diese Deponierungen bringen wir mit der Bestattungsaktion des Germanicus sechs Jahre nach der Schlacht in Verbindung. Anthropologen und Archäozoologen, die die Knochen analysiert haben, gehen davon aus, dass die Überreste mehrere Jahre an der Oberfläche gelegen haben, bevor sie in die Gruben gelangten.

DAMALS: Laut Tacitus ließ Germanicus einen Tumulus (Grabhügel) anlegen.

Wilbers-Rost: Einen solchen Tumulus haben wir nicht gefunden. Er könnte entweder noch außerhalb der untersuchten Grabungsflächen liegen, oder er wurde bereits in antiker Zeit abgetragen. Tacitus selbst schreibt, die Germanen hätten den Grabhügel nach dem Abzug des Germanicus wieder zerstört. Vielleicht war aber auch der Hinweis auf einen Grabhügel nur ein Topos, ein Sinnbild für eine angemessene Totenfürsorge.

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DAMALS: Kann man abschätzen, wie viele Tote in den Gruben bestattet wurden?

Wilbers-Rost: Das lässt sich aufgrund der starken Fragmentierung der Knochen nicht sagen. In einer Grube wurde 17-mal das gleiche Unterkieferfragment gefunden, hier müssen also mindestens 17 Individuen begraben worden sein. Die Hunderte von Knochenbruchstücken, die darüber hinaus in dieser Grube lagen, können theoretisch von wenigen Toten stammen, sind aber vermutlich auf eine viel größere Zahl von Gefallenen zurückzuführen. Eine konkrete Anzahl können wir daher nicht angeben.

DAMALS: Warum ist man sich sicher, dass in den Gruben römische Soldaten bestattet wurden und keine Germanen?

Wilbers-Rost: Einige der gefundenen Knochen weisen Hiebverletzungen auf, die Toten sind also eindeutig Gefallene der Schlacht. Die Robustheit der Knochen, die eine gute Ernährung anzeigt, spricht dafür, dass es sich um römische Legionäre handelt. Vor allem aber ist davon auszugehen, dass die siegreichen Germanen ihre Toten direkt nach der Schlacht bestatteten und sie nicht jahrelang auf dem Schlachtfeld liegen ließen.

DAMALS: Sind die Knochengruben in Kalkriese die einzigen archäologischen Zeugnisse für die Feldzüge des Germanicus zwischen 14 und 16 n. Chr.?

Wilbers-Rost: Bislang wurde sonst nichts gefunden. Dafür könnte es mehrere Gründe geben. Zum einen zog Germanicus im Gegensatz zu Varus nur mit dem für einen Feldzug Allernötigsten los; Luxusgegenstände, wie wir sie in Kalkriese gefunden haben – etwa Überreste von Glas- und Silbergefäßen –, hatten seine Truppen vermutlich nicht dabei. Zum anderen erlitt Germanicus keine derart schwere Niederlage, war also nicht gezwungen, neben Teilen der Ausrüstung auch Gefallene einfach zurückzulassen.

DAMALS: In Kalkriese waren für die zeitliche Zuordnung der Funde die römischen Münzen besonders wichtig. Keine der Münzen war nach 9 n. Chr. geprägt worden. Warum fand man bislang keine Münzen aus der Germanicus-Zeit?

Wilbers-Rost: Es ist genau die Frage, ob bei den Germanicus-Feldzügen überhaupt viel Münzgeld mitgenommen wurde. Bei Varus war die Situation eine andere: Er wollte gegenüber den Germanen Reichtum und Macht demonstrieren, und sicher waren dabei auch Geldgeschenke vorgesehen. Es gab ansonsten eigentlich keinen Grund, große Mengen an Münzen auf eine militärische Kampagne mitzunehmen. Und selbst wenn noch Münzen aus der Germanicus-Zeit gefunden werden sollten, wäre das kein direkter Hinweis auf einen Feldzug. Eine Münze kann auch durch Handel ins rechtsrheini‧sche Gebiet gelangt sein. In Kalkriese gelang erst der Durchbruch, als man zusätzlich zu den vielen Münzen, die der Historiker Theodor Mommsen bereits 1885 in Verbindung mit dem „Ort der Varusschlacht“ gebracht hatte, auch militärische Gegenstände fand.

DAMALS: Die jüngsten Forschungen in Kalkriese zeigen, dass die Sieger anscheinend nach der Schlacht sehr planvoll nach Beute gesucht zu haben.

Wilbers-Rost: Die Germanen haben den toten Legionären alles, was diese an Brauchbarem bei sich trugen, abgenommen. Anschließend wurde das Beutegut zusammengetragen und regelrecht verschrottet. So wurden beispielsweise von den großen römischen Schilden die metallischen Randbeschläge und die Buckel abgetrennt. Man fand Metallteile, etwa Blechfragmente aus Bronze und Silber, die mehrfach gefaltet worden waren, um sie besser abtransportieren zu können. Die Beute wurde aufgeteilt; schließlich waren an der Schlacht mehrere germanische Gruppen beteiligt gewesen.

DAMALS: Man geht inzwischen davon aus, dass das Ganze auch mit einem eher rituellen Element verbunden war. Wie kann man sich das vorstellen?

Wilbers-Rost: Die Verteilung der Funde im Gelände legt den Schluss nahe, dass die Germanen eine Art Beuteschau veranstalteten. Viele militärische Gegenstände waren offenbar entlang dem Wall zusammengetragen worden, den die Germanen vor der Schlacht errichtet hatten, um die Römer aus der Deckung heraus angreifen zu können. Die Beuteschau könnte Bestandteil einer Siegesfeier gewesen sein. Bei den Römern wurden nach einer Schlacht Rüstungen und Waffen der geschlagenen Gegner auf einem Gerüst, einem tropaeum, präsentiert. Es ist durchaus denkbar, dass zumindest diejenigen Germanen, die wie Arminius in den römischen Auxiliartruppen gedient hatten, diesen Brauch kannten und übernahmen.

DAMALS: Laut den Chronisten mussten sich die römischen Truppen rechts des Rheins durch unzugängliche Urwälder und Sümpfe schlagen. Was weiß man tatsächlich über den germanischen Siedlungsraum?

Wilbers-Rost: Im Rahmen des Projekts „Conflict Landscapes“ machen wir uns derzeit ein Bild des Umfelds der Varusschlacht. Wir wollen herausfinden, wie die germanische Siedlungsstruktur die Bewegungen der Römer beeinflusste. Das Gesamtgebiet in Kalkriese, in dem bisher Relikte der Kämpfe entdeckt wurden, umfasst rund 30 Quadratkilometer. Es fanden sich nicht nur Spuren der Schlacht selbst, sondern auch von germanischen Siedlungen. In einigen davon kamen auch römische Funde zutage. Unsere Untersuchungen zeigen, dass es an diesen Orten ebenfalls zu Kämpfen zwischen Römern und Germanen kam. Die Landschaft in Germanien war keineswegs reiner Urwald. Dieses Bild haben die antiken Schriftsteller sicher bewusst konstruiert. Es gab verstreute Siedlungen, Äcker, Wiesen; die Wälder waren Nutzwälder, das heißt, dort weidete das Vieh, und es wurde Bauholz geschlagen. Ein römischer Militärtross konnte dieses Gebiet wohl passieren, allerdings mit Schwierigkeiten, denn mit den gut ausgebauten römischen Straßen links des Rheins oder in Gallien war das ländliche Wegenetz nicht vergleichbar.

DAMALS: Die Siedlungsdichte muss auch für die germanischen Truppen ein entscheidender logistischer Faktor gewesen sein.

Wilbers-Rost: Es stellt sich unter anderem die Frage, ob die germanischen Verbände, die im Zuge des von Arminius geschmiedeten Stammesbündnisses teilweise von weit her kamen, ihren eigenen Proviant mitbringen mussten. Die germanische Landwirtschaft war vermutlich noch nicht auf Überproduktion angelegt. Das wurde auch zum Problem, als Germanicus bei seinen Feldzügen zur Taktik der „verbrannten Erde“ überging: War eine komplette Ernte zerstört, konnte es sicherlich regional zu Hungersnöten kommen.

DAMALS: Seit 1989 wird rund um Kalkriese gegraben und geforscht. Hat sich der Blick auf die Funde in dieser Zeit verändert?

Wilbers-Rost: Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass wir erst die Prozesse nach der Schlacht untersuchen müssen, bevor wir das eigentliche Kampfgeschehen besser verstehen können. Schließlich waren die Aktionen nach der Schlacht, wie das bereits angesprochene Fleddern der Toten oder die Beuteschau, entscheidend dafür, welche Zeugnisse wir im Boden finden und wo diese liegen. Am Anfang waren wir sehr viel optimistischer, dass wir den Verlauf der Kämpfe selbst rekonstruieren können, aber da sind wir inzwischen vorsichtiger.

DAMALS: Die aus den Funden abgeleiteten Grundzüge des Schlachtverlaufs, wonach die Germanen den langen Zug der drei von Varus kommandierten Legionen an verschiedenen Stellen aus Verstecken heraus angegriffen haben, sind aber weiter gültig?

Wilbers-Rost: Ja, das Muster der Fundstreuung mit Häufungen an bestimmten Stellen, vor allem im Grabungsgebiet Oberesch, und die Seltenheit von Funden in östlichen Abschnitten, wo die Römer offensichtlich von den Germanen noch nicht entscheidend in Bedrängnis gebracht worden waren, bestätigte sich im Zuge der Ausgrabungen. Das Geschehen erstreckte sich offenbar über mehr als 15 Kilometer.

DAMALS: Gab es Entdeckungen, die beim Abgleich mit den Schilderungen der Chronisten überraschten?

Wilbers-Rost: Wir fanden im Grabungsfeld Oberesch eine Wallanlage, die man nach den Schriftquellen nicht vermutet hätte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie von den Germanen gezielt angelegt wurde, um die Römer aus dem Hinterhalt heraus angreifen zu können. Bei Tacitus wird zwar ein Wall erwähnt, aber Germanicus soll darin die Überreste eines römischen Lagers gesehen haben. Es ist durchaus denkbar, dass es derselbe Wall ist und Germanicus sich mit seiner Einschätzung irrte. Bei seinem Besuch sechs Jahre nach der Schlacht dürfte die Anlage schon verfallen gewesen sein. Wenn Germanicus die Knochengruben hat anlegen lassen, müsste er die Überreste des Walls direkt daneben bemerkt haben.

DAMALS: 2008 wurden am Harzhorn bei Kalefeld die Überreste einer weiteren Römerschlacht entdeckt, diese fand über 200 Jahre später statt. Hier kam eine Axt mit einer Ritzung zutage, die den Namen einer beteiligten Legion verrät. In Kalkriese fehlt bislang ein so eindeutiger Fund.

Wilbers-Rost: Es gibt in Kalkriese lediglich eine mögliche Legionsangabe, die auf einer Schwertscheide eingeritzt ist; aufgrund von Überlagerungen ist sie aber schwierig zu interpretieren. Eventuell handelt es sich um ein Altteil, das bei den beteiligten Legionen in Nutzung war. Doch selbst wenn man eine Inschrift der Varus-Legionen finden würde, wäre das noch kein Beweis. Es wäre ein weiteres Indiz. Beweise findet man in der Archäologie selten, und in Kalkriese liegt eine Indizienkette vor, die für die Interpretation ausschlaggebend ist. Nach „Beweisen“ zu suchen halten wir für schwierig. Hätten wir etwa gesagt: Wir müssen unbedingt einen Grabhügel finden, hätten wir wahrscheinlich die Knochengruben nicht ernst genommen. Man muss offen für das sein, was man zufällig findet.

Interview: Dr. Armin Kübler

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