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„Locus necessitatis“ und haymlich Gemach

Die Geschichte der Toilette im Mittelalter

„Locus necessitatis“ und haymlich Gemach
Auf dem „stillen Örtchen“ dauerte das Mittelalter länger als in anderen Lebensbereichen. Noch nach 1945 war in weiten Teilen Europas auf dem Land das Plumpsklo die Regel. Jahrhundertelang war die Masse der Bevölkerung von dem Komfort, den die antiken Kulturen auch dem einfachen Bürger geboten hatten, weit entfernt.

Die Schilderung eines entsetzlichen Todes durch den Mönch Lambert von Hersfeld soll uns nicht auf die Spur des Mörders führen. Einer näheren Betrachtung soll allein der Tatort unterzogen werden: „Herzog Gottfried von Lothringen, der sich in Antwerpen, an der Grenze zwischen Lothringen und Flandern, aufhielt, wurde auf heimtückische Weise ermordet … Als der Herzog nachts, als alles schlief, von einem menschlichen Bedürfnis getrieben, den Abtritt aufsuchte, stieß ihm ein Meuchelmörder, der draußen auf ihn gelauert hatte, sein Schwert zwischen die Gesäßbacken, ließ es in der Wunde stecken und lief rasch davon. Gottfried siechte noch eine Woche dahin und starb dann am 27. Februar [1076].“

Die Anfänge des Latrinenwesens im Abendland lassen sich fast aufs Jahr genau bestimmen. Als 546 die Ostgoten unter ihrem König Totila Rom belagerten und keine Mittel fanden, die gewaltigen Mauern der Ewigen Stadt zu überwinden, drehten sie in ihrer Not den Römern einfach das Wasser ab: Sie zerstörten die Aquädukte. Dadurch wurde nicht nur das Trinkwasser knapp, auch die aufwendigen, über die ganze Stadt verteilten öffentlichen Latrinen sowie die Toiletten in den Privathäusern und Kaiserpalästen wurden nicht mehr gespült. Die Metropole drohte an den Fäkalien ihrer Bewohner zu ersticken. Den Beginn des Mittelalters konnte man alsbald am Geruch wahrnehmen.

Bezogen auf die Toilette zog sich das Ende des Mittelalters über Jahrhunderte hin; der Alltag bei der Verrichtung eines dringenden Bedürfnisses gestaltete sich sehr bescheiden. Zwar geriet das in der Antike perfektionierte Prinzip der Beseitigung menschlicher Exkremente durch reichlich fließendes Wasser nie ganz in Vergessenheit; in den alten Kaisermetropolen Rom, Ravenna, Mailand, Arles und Trier dürfte die eine oder andere mit Wasser gespülte Latrine noch einige Zeit in Betrieb gewesen sein. Auch Jerusalem-Pilger, Fernhändler und Gesandte sahen bei ihren Kontakten mit der byzantinischen und der arabischen Welt, wie die antike Badekultur fortlebte, wozu auch eine geregelte Erleichterung auf der Toilette und eine effiziente Entsorgung der Fäkalien gehörten. Ein erster Fortschritt gegenüber der in der Antike geläufigen und im Mittelalter vereinzelt anzutreffenden Toilette mit Wasserspülung ist aber erst aus dem Jahr 1596 zu vermelden, als der Vorläufer unseres heutigen WC erfunden wurde.

Es waren vor allem die Kirche und die Klöster, welche die wichtigsten Grundkenntnisse vom Umgang mit den täglichen menschlichen Hinterlassenschaften ins Mittelalter hinüberretteten. Schon die frühen Mönchsgemeinschaften standen nicht nur vor dem Problem, den Konvent mit Kleidung und Nahrungsmitteln zu versorgen, sondern auch Abfall, Abwässer und Fäkalien zu entsorgen. Bedenkt man, dass bei einem Menschen pro Kopf und Tag im Durchschnitt 750 Gramm feste und flüssige Ausscheidungen anfallen, so konnten bei großen Klöstern mit oft mehreren hundert Konventualen bald schwere hygienische Probleme entstehen – von der Verunreinigung des Trinkwassers bis zur akuten Seuchengefahr. Mit Nachttöpfen, Misthaufen und Sickergruben war dem nicht beizukommen.

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Schon der berühmte Klosterplan von St. Gallen aus dem 9. Jahrhundert zeigt, dass man dem Problem durch den Bau über das Kloster verteilter Latrinen beizukommen suchte. Auch wenn wir es hier nach dem gegenwärtigen Wissensstand mit einem Idealplan und nicht einem konkreten Bauvorhaben zu tun haben, kann man bei den Klosterbauten doch von einem realitätsnahen Entwurf ausgehen. Das gilt in besonderem Maß für die zahlreichen Latrinen und wohl auch für die dort ausgewiesenen Sitzplätze. Sie sind beim dormitorium (Schlafsaal) mit den Beschriftungen exitus ad necessarium (Ausgang zur Latrine), sedilia (Sitze) und lucerna (Nachtlicht) detailliert ausgewiesen. Es handelte sich, wie bei den anderen insgesamt 63 Latrinenplätzen im Klosterplan, um Gemeinschaftslatrinen nach antikem Vorbild. Allenfalls mögen hölzerne Trennwände zwischen den Sitzen existiert haben, weniger um der Intimität willen als vielmehr, um unerlaubte Unterhaltungen oder gar homosexuelle Beziehungen möglichst zu unterbinden. Sogar eine nächtliche Beleuchtung, wie sie nach der Regel Benedikts im dormitorium vorgeschrieben war, ist im St. Galler Plan vorgesehen…

Dr. Wolfgang Metternich

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