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„O Menschenverstand des Mittelalters

Die Säkularisation der Klöster und Kirchenherrschaften

„O Menschenverstand des Mittelalters
Mit der 1802/03 beginnenden Säkularisation der Kirchengüter und -herrschaften brach eine Welt zusammen, die über ein Jahrtausend Mitteleuropa geprägt hatte. War dieses umstürzende Ereignis ein unverantwortbarer Kulturbruch, der unersetzliche Werte zerstört hat, oder ein notwendiger Befreiungsschlag, um den Weg zu einer modernen Gesellschaftsordnung zu finden?

Am 17. März 1803 erschien im bayerischen Kloster Tegernsee der kurfürstliche Kommissär Puck; er erklärte dem Abt Rottenkolber, das Kloster sei auf Grund landesherrlicher Verfügung aufgehoben, und forderte den Schlüssel zu den Räumen der Abtei. Die Bitte um eine Abschrift der Verordnung wurde von Puck als „Widerspänstigkeit“ abgelehnt, gleichzeitig dem Abt unterstellt, er habe Wertgegenstände versteckt oder weggeschafft; danach setzte sich der Beamte in den Besitz der Abtei. Das Ende des Klosters war damit besiegelt.

Tegernsee war nicht irgendein Kloster. Die im 8. Jahrhundert, also vor über 1000 Jahren, gegründete Benediktinerabtei war eines der bedeutendsten Klöster Bayerns gewesen: Im Frühmittelalter, als es das gesamte Tegernseer Gebiet, heute eine beliebte Touristenregion, rodete und organisierte, in der Renaissance, als es zu den aktivsten geistigen Zentren gehörte, nach dem Dreißigjährigen Krieg, als man Kirche und Kloster im Geist des Barock neu erstrahlen ließ. 42 Mönche gehörten dem Kloster 1803 an, kein einziger war zum Austritt bereit. Stets war Tegernsee auch von den Landesfürsten gefördert worden. Wie kann man erklären, daß dies nun alles vorbei war und der Kurfürst selbst das berühmte Kloster aufhob?

Voraussetzung dafür war eine Änderung der geistigen Einstellung. Das Mittelalter und noch das 16. Jahrhundert waren, trotz der Reformationsstreitigkeiten, grundlegend religiös geprägt gewesen; gab es Schwierigkeiten mit Klöstern, kam es wohl auch zu Auflösungen, aber das Ziel war immer ihre Erneuerung nach dem ursprünglichen Ideal. Nach dem Dreißigjährigen Krieg aber, der die Religionsparteien erschöpft auseinandergehen ließ, änderte sich die Lage schnell. Die intellektuellen Meinungsführer, bald auch die Politiker und das wirtschaftende Bürgertum, wandten sich neuen Zielen zu: dem rationalen Aufbau der Staaten, der Förderung von Handel und Gewerbe, den weltlichen Wissenschaften – Religion, Kirche und Klöster waren nun deutlich nachgeordnet. Demgegenüber verblieben die geistlichen Herrschaften und die Klöster im traditionellen System. Da aber seit dem Dreiígjährigen Krieg auch diese, besonders die großen Prälatenklöster, ihren Einfluß ausbauen konnten, entstanden grundsätzliche Spannungen zwischen beiden Systemen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als die kirchenferne, teilweise sogar christentumsfeindliche Aufklärung von Frankreich aus die Geister ergriff, kaum noch ausgleichbar waren. Für radikale Aufklärer erschienen Kirchenherrschaft und Klöster zuletzt als mittelalterlicher Unsinn und galten nur noch als ein Trick mönchischer Dunkelmänner, sich Reichtum und Macht zu erhalten. Als der bayerische Aufklärer Pezzl 1784 einen Reisebericht veröffentlichte, sagte er über die Äbte Oberbayerns, auch den von Tegernsee: „Diese Kapuzen-Monarchen üben in ihrem Erdkreis eine Allgewalt aus und geben sich eine Autorität, die manchen Lama in Tibet beschämt…O Menschenverstand des Mittelalters“!

Wenn die Aufklärer grundsätzlich dem geistlichen Wesen kritisch bis feindlich gegenüberstanden, so differenzierte sich das natürlich nach dessen konkreter Erscheinung. Geistliche Herrschaft, das waren zuerst die Territorien und Rechte, die im Mittelalter einzelnen Bischofssitzen und Klöstern zugewachsen waren; jetzt stellten sie oft große und reiche Fürstbistümer („Hochstifte“) und reichsunmittelbare Klöster („Reichabteien“) dar. Daß solche Gebilde, die es übrigens nur im Deutschen Reich gab, nicht mehr in die Zeit paßten, war weithin, auch bei Gegnern der Aufklärung, allgemeine Überzeugung – sie fielen denn auch als erste den Folgen von Napoleons Siegen zum Opfer (Reichsdeputationshauptschluß 1803). Die Fürstbistümer Freising, Augsburg, Bamberg etwa und, um bei Bayern zu bleiben, die Reichsabteien Ottobeuren, Kempten und das Stift Berchtesgaden wurden damals ihrer reichsunmittelbaren Herrschaft beraubt.

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War dieser Vorgang aber doch eher ein Sieg der modernen Staatlichkeit, die keine Herrschaft mehr neben sich dulden wollte, so zielten die Aufklärer unmittelbar auf das Klosterleben. Alle katholischen Länder waren ja voll von Klöstern, die als „nichtreichsunmittelbar“ keine fürstengleiche Herrschaft ausübten; Mönche und Nonnen lebten dort in Gebet und Arbeit nach ihrer Ordensregel. Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam widersprachen aber diametral den aufgeklärten Idealen von Wirtschaftsdenken, Vermehrung der Bevölkerung und Freiheit der Persönlichkeit, und zwar auch dann, wenn durch Gebet und Arbeit von den Klöstern hohe Erfolge in Wirtschaft und Kultur erzielt worden waren.

Die besondere Abneigung der Aufklärer galt dabei den Bettelorden, und hier besonders den Franziskanern und Kapuzinern, die durch ihren Bettel den Menschen angeblich nutzlos das Geld aus der Tasche zogen, durch ihre volksnahen Predigten Aberglauben verbreiteten, im übrigen ungebildet und unhygienisch waren: „Die Franziskaner“, so sagte 1802 sogar der bayerische Kurfürst, „stinken in der Stadt die Kranken an und impestieren denselben noch die wenige Luft“. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Auflösungsorder zuerst die Bettelklöster traf, und zwar schon 1802, noch vor der offiziellen Ermächtigung durch das Reich. Weniger gute Argumente hatte man gegen die großen Prälatenklöster der Benediktiner, Zisterzienser, Prämonstratenser oder Augustinerchorherren, die oft hervorragend geführt waren. Auf diese warf aber der staatliche Fiskus begehrliche Blicke. Mehrfach hatte man früher deren Beihilfe in schwierigen Zeiten erhalten – konnte nicht der vollständige Einzug dieser reichen Klöster nun vielleicht den Staatshaushalt sanieren? In der Tat boten im 18. Jahrhundert viele Prälatenklöster, ob reichsunmittelbar oder nicht, das Bild von „Klosterstaaten“. Wieder kann Tegernsee ein Beispiel sein. Nicht nur das große Kloster selbst mit seiner barocken Kirche und seinen neuen Gebäuden, mit reicher Bibliothek und physikalischem Kabinett, mit der Pflege von Wissenschaften und Musik zeigte sich als Ausstrahlungspunkt von Religion und Kultur, auch die Organisation von Verwaltung und Wirtschaft waren höchst eindrucksvoll. Das „Klostergericht Tegernsee“, wie die Bayern zwar unterstehende, aber deutlich selbständige Einheit hieß, umfaßte neben dem klösterlichen Eigenbetrieb 470 bäuerliche Wirtschaftseinheiten, die die Mönche über Jahrhunderte durch kluge Rodungs- und Besetzungspolitik ertragreich gemacht hatten. Durch vielfache Teilungen waren neben den großen Höfen Kleinsterwerbsstellen errichtet worden, die den Klosterbediensteten und Handwerkern ein Auskommen gaben. Ausgedehnte Wirtschaftsbeziehungen – auch zu den eigenen Weingütern in Südtirol – sicherten der Bevölkerung Nahrungsvorräte in Notzeiten. Die Abtei war aber auch über ihren engeren Umkreis hinaus von Bedeutung. Der Abt nahm an den Landtagen als Mitglied der sogenannten Prälatenbank teil; in der bayerischen Benediktiner-Kongregation spielte er eine wichtige Rolle, und schließlich lehrten Tegernseer Mönche als Professoren am Lyzeum in Freising und an der Universität Salzburg. Tegernsee ist dabei nur ein Beispiel von vielen. In Bayern waren Benediktbeuern, Niederalteich oder Scheyern nicht weniger bedeutend, in Franken Ebrach und Fulda, in Schwaben Weingarten und Ochsenhausen, in Österreich Melk, Göttweig oder St. Florian, in der Schweiz Einsiedeln und St. Gallen: überall stellten solche „Klosterstaaten“ höchst aktive Herrschaftsmittelpunkte und wirtschaftliche und kulturelle Zentralorte dar…

Literatur: Bayern ohne Klöster? Die Säkularisation 1802/03 und die Folgen, Ausstellungskatalog, München 2003.

Prof. Dr. Walter Ziegler

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