Desertion kann man als eine einsame Bewährung verstehen. Sie findet im Verborgenen statt. In aller Regel haben die Fahnenflüchtigen der Wehrmacht keine schriftlichen Spuren hinterlassen. Daher wissen wir wenig über ihre Beweggründe, ihre Erfahrungen und über die Art und Weise, wie sie diese nach dem Krieg verarbeitet haben.
Eine Ausnahme bilden jene Deserteure, denen es gelang, in die Schweiz zu fliehen, und denen dort Asyl gewährt wurde. Nach ihrer erfolgreichen Flucht mussten sie sich einer intensiven Befragung durch den Schweizer Geheimdienst unterziehen. Die dabei gefertigten, ausführlichen Verhörprotokolle werden im Berner Bundesarchiv verwahrt. Sie bilden die zentrale Quellengrundlage Kochs. Daneben zog er die Fahndungsakten der Wehrmacht, Personalakten und Ego-Dokumente heran. In einigen Fällen konnte er auf literarische Verarbeitungen des Deserteurserlebnisses zurückgreifen.
Während des Zweiten Weltkrieges fanden insgesamt 104 886 Militärpersonen aus mehr als zwei Dutzend Nationen in der Schweiz Zuflucht. Über sie ist bislang kaum geforscht worden. Magnus Koch sichtete die Akten von 295 deutschen Deserteuren, beschränkte sich sodann auf jene 102 deutschen Fahnenflüchtigen, die sich bereits im Sommer 1942 in schweizerischem Gewahrsam befanden. Sechs von ihnen, deren Geschichte besonders gut dokumentiert ist, wählte er für seine empirische Untersuchung aus.
Sie alle, ein Offizier und fünf Mannschaftsdienstgrade, hatten an der Ostfront gekämpft und dort den Vernichtungskrieg gegen Slawen und Juden miterlebt. Ihr Entschluss, sich zu entziehen, ist von ihren Erlebnissen im Kriegsalltag nicht zu trennen. Koch begreift die Fahnenflüchtigen weniger als Opfer des Krieges oder der Militärjustiz, sondern vielmehr als „handelnde Personen“, die ihre Möglichkeiten zur Flucht erkannten und wahrnahmen.
Indirekt vermittelt diese Arbeit wertvolle Erkenntnisse über die Frage: Weshalb hatte trotz des verbrecherischen Charakters dieses Krieges nur eine verschwindend kleine Zahl von Soldaten den Mut zur Desertion gefunden? Magnus Koch meint, das heroische Männlichkeitsideal, das in der NS-Zeit zusätzlich rassistisch aufgeladen war („Herrenmenschen“ versus „Untermenschen“), habe eine Entziehung eigentlich nicht zugelassen. Denn diese zog – von der von der Militärjustiz angedrohten Todesstrafe einmal abgesehen – den Verlust der schützenden Kameradschaft nach sich und, schlimmer noch, den Verlust des Ansehens als kriegerischer Mann. War Desertion doch – in der offiziellen Optik jener Zeit – das ehrlose Delikt schlechthin.
Rezension: Wette, Wolfram