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Embryonen als medizinischer Rohstoff?

Allgemein

Embryonen als medizinischer Rohstoff?
„Parkinsonkranke hoffen auf die Transplantation von Hirngewebe aus Embryonen. Ein neues Heilverfahren provoziert die Angst vor „“Körperplantagen““. Frauen könnten als lebende Gewebebanken dienen.“

Jedes Jahr erkranken allein in Deutschland 15000 Menschen an der Parkinsonschen Krankheit. Mit Medikamenten können Ärzte die Symptome wie Versteifung der Muskulatur, Zittern der Arme und Beine, Kreislaufstörungen sowie Magen- und Darmbeschwerden lindern – heilen können sie die Krankheit jedoch nicht. Nun wollen Neurologen der „Schüttellähmung“ auf eine Weise zu Leibe rücken, die ethisch brisant ist. Sie planen, Gewebe aus abgetriebenen Embryonen auf das Gehirn der Patienten zu übertragen.

Die Parkinson-Symptome beruhen auf einem Ausfall bestimmter Gehirnzellen, die Dopamin produzieren. Dieser Botenstoff vermittelt die Verständigung zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns. Sind rund die Hälfte der Dopamin-produzierenden Zellen zugrunde gegangen, treten die ersten Anzeichen für die Parkinsonsche Krankheit auf. Meist geschieht das im Alter von 50 bis 60 Jahren, es kann aber auch wesentlich jüngere Patienten treffen.

Ziel jeder Behandlung ist es, die Menge von Dopamin im Gehirn wieder so zu erhöhen, daß die Kommunikation der Nervenzellen untereinander reibungslos ablaufen kann. Zu diesem Zweck geben Mediziner das Medikament L-Dopa, das zu einem schnellen, oft vollständigen Verschwinden der Initialsymptome führt. Nach etwa fünf bis sieben Jahren verlieren die Medikamente aber ihre Wirksamkeit. Deshalb sucht die Forschung seit langem nach Wegen, Zellen in das Gehirn zu implantieren, die die ausgefallenen Dopaminproduzenten dauerhaft ersetzen. Große Hoffnungen setzen sie dabei auf Hirngewebe, das aus abgetriebenen Embryonen gewonnen wird. Diese Zellen sind in der Lage, den notwendigen Botenstoff zu liefern.

An der Medizinischen Hochschule Hannover erforscht der Neurologe Guido Nikkah die Transplantation von Embryonalgewebe. In Tierversuchen konnte der Mediziner die Wirksamkeit der Methode nachweisen. Inzwischen sind nach Angaben von Nikkahs Kollegen Madjid Samii in Hannover alle technischen und personellen Voraussetzungen erfüllt, um auch mit klinischen Studien zu beginnen. Die Ethikkommission der Bundesärztekammer lehnt dieses Verfahren allerdings in einer aktuellen Stellungnahme grundsätzlich ab.

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Gegner der Methode befürchten, daß Frauen in ihrer Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch beeinflußt werden, wenn embryonales Gewebe in größerem Maßstab für medizinische Zwecke verwendet würde. Die Politologin Ingrid Schneider, Autorin des Buches „Föten – der neue medizinische Rohstoff“, entwirft gar das Bild einer Gesellschaft, die Frauen nur noch als „lebende Gewebebanken“ ansieht und in der Sexualität als „Akt der Herstellung eines medizinisch verwertbaren Rohstoffes“ gilt.

Das Problem in Zahlen: In Deutschland ließen im vergangenen Jahr offiziell rund 130000 Frauen abtreiben. Davon fanden nur rund 33000 Abbrüche zu einem Zeitpunkt statt, zu dem das Hirngewebe des Embryos für eine Transplantation verwertbar ist – nämlich zwischen der sechsten und neunten Schwangerschaftswoche. Neurologen benötigen für eine erfolgreiche Operation fünf bis sechs Embryonen. Der Bedarf wird also aus den legal vorgenommenen Abtreibungen nicht zu decken sein, wenn die Methode eines Tages so ausgereift ist, daß jeder der 15000 neu pro Jahr Erkrankenden damit behandelt werden kann. Aus diesem Grund bezeichnet Ingrid Schneider den Erfolg als „die größte Gefahr“ dieser Methode. Guido Nikkah weist dagegen darauf hin, daß das Verfahren nur bei ein bis zwei Prozent aller Parkinson-Patienten in Frage kommt, nämlich bei solchen, die in jungen Jahren erkranken und bei denen sich die medikamentöse Behandlung bald erschöpft hat.

Ärzte und Wissenschaftler setzen sich schon seit geraumer Zeit mit der ethischen Problematik einer Transplantation auseinander: 1994 hat die europäische Expertenkommission NECTAR (Network on European CNS Transplantation And Restoration) Richtlinien erarbeitet. Darin betonen die Wissenschaftler, daß die Entscheidung der Frau, eine Schwangerschaft zu beenden, „unter keinen Umständen durch die mögliche oder erwünschte Weiterverwendung des Embryo oder Fötus beeinflußt werden dürfe“. Außerdem verbietet die Richtlinie es, intakte Embryonen künstlich am Leben zu erhalten. Es dürfen lediglich die Zellen aus dem Mittelhirn in Kultur genommen werden, die dann in zwei bis vier Stunden implantiert werden müssen.

Erste neurochirurgische Behandlungsversuche der Parkinsonschen Krankheit fanden bereits in den dreißiger Jahren statt. Damals konnten durch die gezielte Zerstörung bestimmter Hirnregionen die Symptome nachhaltig gebessert werden. Allerdings führte diese Methode auch zu unerwünschten Funktionsausfällen, beeinträchtigte zum Beispiel Sprache und Mimik.

In den achtziger Jahren erprobten die Ärzte ein anderes Verfahren: Sie pflanzten Dopamin-produzierende Zellen aus dem Nebennierenmark von Parkinson-Patienten in deren Hirn ein. Bis 1989 wurden weltweit über 300 solcher autologer Transplantationen vorgenommen. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Nur bei rund 30 Prozent der Patienten führte die Operation zu einer leichten Verbesserung in den ersten neun Monaten. Deshalb haben die meisten Forschungszentren diesen Ansatz wieder verlassen.

Embryonale Spenderzellen wachsen grundsätzlich besser in das Gehirn ein als erwachsene Zellsysteme. 1987 nahmen Mediziner in Mexico-City erstmals einen solchen Eingriff vor.

Die Ärzte um Guido Nikkah entwickelten jetzt ein Verfahren zur Mikroimplantation: Die Zellen werden auf verschiedene Stellen in der betroffenen Hirnregion verteilt, so daß man mit insgesamt weniger Zellen auskommt. Außerdem überleben bei dieser Methode mehr Zellen als sonst. Das könnte ein entscheidender Ausweg aus einem Problem sein, mit dem die Neurochirurgen zur Zeit noch kämpfen: Die meisten transplantierten Zellen gehen bald zugrunde – nach einem halben Jahr leben nur noch 0,1 Prozent.

Susanne Liedtke

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