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Einzigartig menschlich? Beruhigende Netzwerke im Gehirn

Gesundheit|Medizin

Einzigartig menschlich? Beruhigende Netzwerke im Gehirn
Neuronennetzwerke
Teilkarten der neuronalen Netzwerke in der Großhirnrinde des Menschen. © Loomba, Helmstaedter/ MPI für Hirnforschung/ Science 2022

Was unterscheidet unser Gehirn von dem der Tiere? Um diese Frage zu beantworten, haben Forscher die Netzwerke der Nervenzellen in den Gehirnen von Mäusen, Menschen und Affen verglichen. Demnach weist die menschliche Großhirnrinde eine überraschende Besonderheit auf: Sie ist durchzogen von einem Netzwerk hemmender Nervenzellen, das zehnmal stärker ausgeprägt ist als bei Mäusen. Die genaue Funktionsweise dieses Netzwerks ist noch unklar. Die Forscher vermuten jedoch, dass es gerade diese eingebaute Bremse sein könnte, die uns ermöglicht, Gedanken länger festzuhalten und zu verfolgen.

Mit seinen rund 86 Milliarden Nervenzellen bildet das menschliche Gehirn ein komplexes Netzwerk, das bisher nur in Ansätzen verstanden ist. Um mehr über die Funktionsweise des Gehirns herauszufinden, behelfen sich Wissenschaftler aus ethischen und praktischen Gründen oft mit den Gehirnen von Modellorganismen, vor allem Mäusen. Auf molekularer Ebene sind sich die Gehirne von Maus und Mensch weitgehend ähnlich. Sie haben die gleichen Arten von Ionenkanälen und leiten elektrische Erregung nach den gleichen Mechanismen weiter. Doch trifft das auch auf die Netzwerke zwischen den Nervenzellen zu?

Unterschiede zwischen Menschen- und Mäusehirn

Mit dieser Frage hat sich nun ein Team um Sahil Loomba vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt beschäftigt. „Bislang ging man einfach davon aus, dass auch die Netzwerke zwischen den Nervenzellen bei Menschen ähnlich aufgebaut sind wie bei Mäusen“, erklären die Forscher. „Um das zu überprüfen, braucht es aber vergleichende Studien der Nervenzellverbindungen mit einer Auflösung auf Synapsenebene.“

Eine ebensolche Studie haben Loomba und sein Team nun durchgeführt. Dazu nutzen sie Biopsien aus der menschlichen Großhirnrinde, die bei medizinisch notwendigen neurochirurgischen Eingriffen bei Hirntumor-Patienten entnommen worden waren. Die untersuchten Proben umfassten ausschließlich gesundes Hirngewebe. Mit Hilfe von dreidimensionaler Elektronenmikroskopie kartierten die Forscher rund eine Million Synapsen und ihre Funktion in den Gewebeproben. Zum Vergleich untersuchten sie auf die gleiche Weise Proben aus der Großhirnrinde von Mäusen und von Makaken.

Beruhiger beruhigen sich gegenseitig

Das Ergebnis: Im Vergleich zu Mäusen sind bei Menschen und Makaken die Verknüpfungen von sogenannten hemmenden Interneuronen deutlich stärker ausgeprägt. „Hemmende Interneurone stellen rund ein Viertel bis ein Drittel der Nervenzellen im menschlichen Kortex, und sie haben ganz erstaunliche Wirkung: Sie sind selbst stark elektrisch aktiv, stimulieren damit aber nicht etwa andere Nervenzellen, sondern hemmen sie in ihrer Aktivität“, erklärt Loombas Kollege Moritz Helmstaedter.

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Er vergleicht die Aktivität dieser Nervenzellen mit den Aufgaben von Erziehern im Kindergarten oder Ordnern in Fußballstadien oder Museen: „Ihr sehr anstrengender und stark energieverbrauchender Einsatz gilt der Beruhigung der anderen.“ Doch in unserem Gehirn sind es nicht etwa einzelne Ordner, die eine Vielzahl anderer beruhigen. Die Netzwerkanalysen zeigen, dass die Verknüpfungen zu den großen Pyramidenzellen, den wichtigsten erregenden Neuronen der Großhirnrinde, bei Menschen kaum stärker sind als bei Mäusen. Dafür sind die hemmenden Interneuronen zehnmal mehr untereinander vernetzt. „Stellen Sie sich einen Raum voller Museumswärter, ein Stadion voller Fußballordnerinnen vor, die sich alle gegenseitig beruhigen“, beschreibt Helmstaedter. „Diese Art von Netzwerk hat das menschliche Gehirn entwickelt.“

© MPI für Hirnforschung/ Helmstaedter Lab

Bedeutung noch nicht geklärt

Die genaue Funktion und Bedeutung dieser hemmenden Netzwerke ist bislang unklar. „Es gibt theoretische Hinweise darauf, dass sie zu längerem Verweilen von Sinneseindrücken oder ‚Gedanken‘ führen, also das Arbeitsgedächtnis verlängern können“, sagt Helmstaedter. „Das erlaubt weitreichende Spekulationen: Handelt es sich bei diesen neuartigen Netzwerken um die Grundlage ausschweifenden Denkens? Einen Gedanken, eine Idee, länger behalten zu können, um sie selbst als Objekt des weiteren Denkens zu nutzen?“

Um solche Fragen zu klären, sind weitere Studien erforderlich. Ihre Ergebnisse könnten bedeutende Implikationen für psychische Krankheiten haben, aber auch die Entwicklung künstlicher Intelligenzen vorantreiben. „Das komplette Fehlen von derartigen Netzwerken in heutiger ‚AI‘ mag ein Ansporn sein, diese Erfindung der Evolution auf ihren Wert für neuartige künstliche Intelligenz zu überprüfen,“ so Helmstaedter.

Quelle: Sahil Loomba (Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt) et al., Science, doi: 10.1126/science.abo0924

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