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„Das habe ich in der kühnsten Fantasie nicht vorhergesehen“

Technik|Digitales

„Das habe ich in der kühnsten Fantasie nicht vorhergesehen“
Physik-Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle am MIT in Boston (Bild: Bryce Vickmark)

Für die Entdeckung der Bose-Einstein-Kondensation erhielt Wolfgang Ketterle 2001 den Physiknobelpreis. Daraus hat sich ein spannendes Experimentierfeld entwickelt. bild der wissenschaft-Redakteur Ralf Butscher sprach mit dem Quantenphysiker in Boston.

Herr Prof. Ketterle, 2020 wird das Bose-Einstein-Kondensat 25 Jahre alt. Was zeichnet es aus?
In einem Bose-Einstein-Kondensat marschieren viele Atome oder Moleküle im Gleichschritt, sie bewegen sich als eine einzige Welle. Dieser Zustand stellt sich ein, wenn man Gase auf sehr tiefe Temperaturen von wenigen milliardstel Grad (Nanokelvin) über dem absoluten Nullpunkt bei minus 273,15 Grad Celsius abkühlt.

Was ist aus der Entdeckung geworden, für die Sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden?
Das Forschungsgebiet floriert. Es zieht immer noch die besten jungen Wissenschaftler an. Nach wie vor werden neue Stellen an Universitäten geschaffen, um daran zu arbeiten. Und es gibt immer wieder Überraschungen: Anwendungen, an die niemand gedacht hatte. Dabei geht es etwa um magnetische Eigenschaften: Wir stellen magnetische Kondensate her, an denen sich ungewöhnliche Phänomene untersuchen lassen. Eine andere Forschungsrichtung ist die „eiskalte Chemie“: die Untersuchung chemischer Reaktionen bei Temperaturen im Nanokelvin-Bereich. Dazu brauchen wir nicht nur Atome, sondern auch Moleküle.

Was lernt man aus der eiskalten Chemie?
Wenn man zu ultratiefen Temperaturen geht, hat man die volle Kontrolle über die Quantenzustände der beteiligten Atome und Moleküle. Dann entspricht eine chemische Reaktion einem Übergang von einem Quantenzustand in einen anderen. So lassen sich chemische Prozesse viel detaillierter studieren als bei höheren Temperaturen.

Mit welchen Stoffen arbeiten Sie?
Inzwischen haben wir einen weiten Bereich des Periodensystems für die Bose-Einstein-Kondensation erschlossen. Begonnen hatte es mit Rubidium, Natrium und Lithium. Danach wurden auch Kondensate aus Wasserstoff, Strontium, Ytterbium, Chrom, Dysprosium, Erbium und mehreren anderen Elementen hergestellt. Ultrakalte Moleküle sind etwa Kalziumfluorid oder Dimere aus Alkalimetallen.

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Was ist eine mögliche Anwendung?
Kalte Atome haben die Zeitmessung revolutioniert. Die genauesten Uhren, die wir haben – optische Atomuhren – basieren auf ultrakalten Gasen. Sie werden meist mit Strontium- und Ytterbium-Atomen betrieben. Das war ein Grund, diese Stoffe in den Nanokelvin-Temperaturbereich zu bringen. Bose-Einstein-Kondensate sind längst mehr als ein Forschungsgegenstand, sie sind ein Werkzeug für die Forschung geworden.

Wie kalt kann es in einer Atomwolke werden?
2003 haben wir in einem unserer Labors eine Temperatur von 450 Pikokelvin gemessen, weniger als ein halbes Milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt. Das hat Eingang ins Guinness-Buch der Rekorde gefunden. Inzwischen sind wir unter bestimmten Bedingungen bis auf 350 Pikokelvin gekommen und haben sogenannte Spintemperaturen von 50 Pikokelvin erreicht. Auf einige Nanokelvin zu kühlen, ist längst Routine.

Wie erzeugt man so tiefe Temperaturen?
Temperaturen bis in den Pikokelvin-Bereich erreichen wir durch Verdampfungskühlung. Das lässt sich mit einem Glas Wasser unter einer Glocke vergleichen, aus der man den Wasserdampf abpumpt. Dabei gefriert das Wasser. Denn mit dem Dampf entfernt man besonders energiereiche Wassermoleküle. Was zurückbleibt, wird kälter und kälter. So machen wir das auch: Wir lassen aus Atomwolken die energiereichsten Atome entkommen. So gehen zwar Teilchen verloren, aber mit ihnen auch Energie – und die Temperatur sinkt: eine äußerst effiziente Kühlmethode.

Welche Rolle spielen Bose-Einstein-Kondensate in Ihrer Forschung?
In vielen Experimenten verwenden wir ein Bose-Einstein-Kondensat als „Kühlschrank“, in den wir Atome stecken. Die Materiewelle ist zum Kühlmittel geworden – ähnlich wie superflüssiges Helium. Das kann man in großen Behältern kaufen, zum Beispiel um Magnete für die Kernspintomografie zu kühlen. Oder wir transformieren das Kondensat in andere Formen der Materie.

Wie geht das?
Wir nehmen etwa Magnetfelder und Laser, mit denen wir in das Kondensat hineinleuchten. Dadurch spalten wir es in viele einzelne Atome auf – mit denen sich auf vielfältige Weise experimentieren lässt. Die Atome, die wir so erhalten, haben mit dem Bose-Einstein-Kondensat nichts mehr gemeinsam. Doch die Methode, sie aus einem Kondensat zu erzeugen, ist sehr effizient. Denn das Kondensat ist ein Zustand ohne Entropie – ein Maß für die Unordnung eines Systems. Das ermöglicht eine einfache Kontrolle. So können wir die außergewöhnlichen Eigenschaften des Bose-Einstein-Kondensats – definierter Quantenzustand, keine Entropie, hohe Reinheit und Kälte – in andere Materieformen übertragen.

Waren diese Entwicklungen vor 25 Jahren absehbar?
Nein. Selbst in meiner kühnsten Fantasie habe ich nicht vorhergesehen, was seither geschehen ist. Hier zeigt sich etwas, das typisch ist für die Wissenschaft: Es werden Entdeckungen gemacht, die groß sind – auch mit Blick auf ihre Auswirkungen. Aber die Motivation, die die Forscher dazu geführt hat, ist längst nicht so umfassend wie das, was damit später tatsächlich geschieht. Man kann Wissenschaft nicht von der Anwendung her planen. Man kann nicht sagen: Ich will dieses oder jenes machen – und muss dafür zum Beispiel ein Bose-Einstein-Kondensat finden. Genauso war es etwa mit Atomuhren. Die wurden entwickelt, um Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zu überprüfen. Ein paar Jahrzehnte später sind sie zum wichtigsten Bestandteil von Satelliten-Navigationssystemen geworden. Niemand, der die Navigation verbessern wollte, wäre auf die Idee gekommen, eine Atomuhr dafür zu bauen. Das Besondere sind oft die Anwendungen, die man nicht im Visier hatte.

Das gesamte Interview lesen Sie in der April-Ausgabe von bild der wissenschaft.
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