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Das Erbe der A-Bombe

Geschichte|Archäologie Gesundheit|Medizin

Das Erbe der A-Bombe
60 Jahre ist der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki her. Noch immer ist die Beobachtung der damals Überlebenden die wichtigste Datenbasis für den Strahlenschutz.

Warten auf den Postboten: Hie und da in Deutschland – in Bremen, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersach- sen – bekommt manche Frau über 50 in diesem Jahr erstmals eine schriftliche Einladung zu einer Mammographie, der Röntgenuntersuchung der Brust.

2002 forderte der Bundestag das oberste Lenkungsgremium im Gesundheitswesen, den Gemeinsamen Bundesausschuss, auf, bis Ende 2005 ein Screening-Programm zur Früherkennung von Brustkrebs bei Frauen an den Start zu bringen. Etwa 9,7 Millionen Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren sollen alle zwei Jahre zur Mammographie gehen können. Bis alle Bundesländer komplett dabei sind, wird es allerdings voraussichtlich 2007 werden. Denn der Aufbau der Strukturen dauert.

Die Republik wird in Screening-Einheiten aufgeteilt, in jeder richten die Kassenärztlichen Vereinigungen Mammographiezentren ein. Nur mit strikten Qualitätskontrollen kann das Mammutprojekt – geschätzte Kosten Jahr für Jahr: 500 Millionen Euro – ein Erfolg werden. Denn Fehldiagnosen könnten mehr Schaden als Nutzen anrichten. Daher sollen mehrere Ärzte jedes Mammographie-Bild begutachten. Nicht nur die Geräte, sondern auch die Mediziner müssen auf dem neuesten Stand sein.

Das Projekt soll Leben retten. Brustkrebs ist hierzulande der häufigste Tumor bei Frauen: Etwa 47 500 erkranken und etwa 18 000 sterben jedes Jahr daran. Die meisten Patientinnen sind älter als 50 Jahre. Die Befürworter des Screenings hoffen, dank regelmäßiger Früherkennung könne die Anzahl der Todesfälle um 20 oder gar 30 Prozent gesenkt werden.

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Screening-Programme für Brustkrebs in Finnland, Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Kanada und den USA sowie etliche klinische Studien ergeben allerdings eine gemischte Bilanz: Längst nicht jede Statistik verzeichnet tatsächlich eine Verringerung der Todesfälle. Fest steht auch: Die eingesetzte Strahlung muss so gering wie möglich sein, könnte sie doch ihrerseits Krebserkrankungen erst auslösen.

Eine Mammographie-Untersuchung darf das Brustgewebe einer Frau höchstens mit 4 Milli-Sievert Strahlendosis belasten. „Das ist heute Stand der Technik”, betont die Mathematikerin Elke Nekolla vom Fachbereich Strahlenschutz und Gesundheit am Bundesamt für Strahlenschutz in Neuherberg. Sie ist Mitautorin einer Risiko-Kalkulation der Strahlenschutzkommission zum geplanten Screening. Das Fazit nach 43 Seiten Tabellen und Rechnungen: Der Nutzen überwiegt das Strahlenrisiko.

Derartige Risiko-Berechnungen fußen auf einem grausigen Ereignis, das sich 2005 zum sechzigsten Mal jährt. Die Grundlage für die heutigen Szenarien zum Strahlenschutz ist nämlich die „ Life Span Study” (LSS) – erhoben an Überlebenden der Atombomben-Abwürfe des 6. beziehungsweise 9. August 1945.

Am 6. August zünden die US-Amerikaner über Hiroshima die Uran-Bombe „Little Boy”, drei Tage später über Nagasaki die Plutonium-Bombe „Fat Man”. Von den 310 000 Menschen, die sich in Hiroshima aufhalten, sterben sofort zwischen 90 000 und 140 000. Von den 250 000 Menschen in Nagasaki sterben 60 000 bis 80 000.

Wer sich innerhalb eines Radius von einem Kilometer um das Hypozentrum befindet – das ist der Punkt auf dem Erdboden, oberhalb dessen die Bomben explodieren – hat kaum Chancen. Denn hier beträgt die Temperatur 3000 bis 4000 Grad Celsius. Zum Vergleich: Bei 3415 Grad Celsius verflüssigt sich Wolfram, das Material mit dem höchsten Schmelzpunkt aller Metalle. Und die Strahlendosis erreicht einige Dutzend Sievert. Wer hier nicht sofort an Hitze, Druck, Verbrennungen oder anderen Verletzungen stirbt, erliegt binnen Wochen den akuten Strahlenschäden.

Hibakusha, „explosionsgeschädigte Personen”, heißen die Überlebenden der Bomben. Erst 1957 räumt ihnen die japanische Regierung mit dem A-Bomb Victims Medical Care Law gewisse Entschädigungen und eine kostenlose medizinische Grundversorgung ein. 1960 gibt es Anspruch auf generell kostenlose medizinische Versorgung. 1962 wird der Radius um die Hypozentren, in dem sich jemand aufhalten musste, um Anspruch auf die Vergünstigungen zu haben, auf drei Kilometer erweitert. Zuvor hatte die Grenze bei zwei Kilometern gelegen.

Sehr schnell kommt nach Kriegsende die Forschung in Gang. Im November 1946 billigt US-Präsident Harry Truman die Gründung der Atomic Bomb Casualty Commission, ABCC. Das Ziel: An Überlebenden der Atombomben sollen die medizinischen Spätfolgen ionisierender Strahlen beobachtet werden. 1975 wird aus der ABCC das amerikanisch-japanische Gemeinschaftsprojekt Radiation Effects Research Foundation, RERF.

Bereits 1950 stellen die Forscher die „Kohorte” zusammen – die von den Statistikern beobachtete Gruppe der Life Span Study. Heute kennen sie den genauen Aufenthaltsort von 86 671 Überlebenden zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs. Bei jedem Einzelnen fahnden sie seither nach Neuerkrankungen und registrieren am Ende die Todesursache.

Alle zehn Jahre werden die Teilnehmer der LSS obendrein per Brief zu Gesundheit und Lebensumständen befragt. Die Angaben seien freiwillig, betont der Biostatistiker John Cologne, geschäftsführender Leiter der Statistikabteilung bei der RERF in Hiroshima. Ein Teil der LSS-Kohorte, ursprünglich etwa 22 000 Menschen, wird obendrein seit Beginn der Beobachtung alle zwei Jahre ärztlich untersucht. Auch etwa 80 000 Kinder der Überlebenden wurden auf genetische Schäden getestet.

Parallel versuchen Forscher seither, die individuellen Strahlenbelastungen möglichst exakt nachzukalkulieren. Die Daten zur so genannten Dosimetrie stammen vor allem aus Atombombentests, die bis Anfang der Sechzigerjahre in Nevada stattfanden. „In der Wüste wurden sogar japanische Häuser nachgebaut, um nachträglich ihre Abschirmung während der Explosion zu messen”, berichtet Werner Rühm, Physiker am Institut für Strahlenbiologie der Universität München.

1986 kamen Großrechner zum Einsatz, um in Simulationen die Strahlendosen bei den Explosionen zu kalkulieren. Eine zentrale Rolle spielten erneut US-Forscher an großen staatlichen Instituten in Los Alamos, Livermore und Oak Ridge. Bis 2002 aber blieben Unstimmigkeiten. Die gemessenen Werte für die Neutronenstrahlung, ermittelt durch Isotopenanalysen in Proben aus beiden Städten, stimmen nicht mit den Werten der Computersimulationen überein.

Rühm war Mitglied einer Forschergruppe, deren Messungen dazu beitrugen, diese „Neutronen-Diskrepanz” zu beenden: 2003 veröffentlichte die Gruppe eine Neubestimmung der Neutronenstrahlung in beiden Städten. Sie bestimmte dafür die Menge des Nickel-Isotops Ni-63 in Kupferproben von Dachrinnen, Blitzableitern und Dächern, die noch heute an der Universität von Hiroshima aufbewahrt werden.

Etwa ein einziges 1945 durch den Neutronenhagel entstandenes Ni-63-Atom konnte die Gruppe noch unter 1017 Atomen in den Proben finden – das entspricht rund einer Million Ni-63-Atomen in einem Metallwürfel von einem Zentimeter Kantenlänge. Diesmal stimmten die zurückgerechneten Werte der Neutronenstrahlung im Jahr 1945 mit denen erneuter Computersimulationen überein.

Weltweit waren viele Gruppen an der letzten Neubestimmung der Strahlendosis, dem Dosimetriesystem 2002 (DS02), beteiligt. Sie hat im Wesentlichen die früheren Annahmen bestätigt. Etwa 48 000 Teilnehmer der LSS waren bei den Bombendetonationen weniger als 2,5 Kilometer vom Hypozentrum entfernt und erlitten Strahlendosen zwischen 5 Milli-Sievert (mSv) und mehr als 2 Sievert. Etwa 38 000 Teilnehmer waren weiter entfernt als 2,5 Kilometern und bekamen weniger als 5 mSv ab – sie bilden die Kontrollgruppe bei der Berechnung von Todesfällen als Bestrahlungs-Spätfolge.

Ende 2000 lebten noch 45 Prozent der Studienteilnehmer. Die aktuellen Auswertungen, die bis zum Jahr 2000 reichen, zeigen die Spätbilanz der Bomben.

• Die Zahl der Opfer von Tumoren und Leukämie ist gegenüber der Kontrollgruppe erhöht. Von den 86 611 erfassten Menschen sind zwischen 1950 und 2000 insgesamt 10 085 an Tumoren gestorben sowie 296 an Leukämie. Von den Todesfällen in der Gruppe, die einer Dosis von mehr als 5 mSv ausgesetzt war, gehen 477 – 8 Prozent – und von den Leukämie-Opfern 93, rund 50 Prozent, auf das Konto der Strahlung.

• Ein gestiegenes Risiko findet sich auch bei Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Leberzirrhose, Bluthochdruck, Grauem und Grünem Star, Parkinson und Demenz: Etwa 250 Todesfälle als Folge dieser Erkrankungen, knapp 1 Prozent der bislang daran Gestorbenen, gehen auf die Strahlendosis im August 1945 zurück. „ Das hat alle überrascht”, sagt der Physiker Peter Jacob vom Institut für Strahlenschutz am GSF-Forschungszentrum in Neuherberg. „Wir kennen, anders als bei Krebs, noch nicht einmal die Mechanismen, die für diese Arten von Spätfolgen verantwortlich sind.”

Eine weitere Erkenntnis: Je jünger die Opfer waren, desto massiver sind die Folgen. Wer als Kind bestrahlt wurde, hat ein wesentlich höheres Lebenszeitrisiko für Spätschäden als jemand, der 40 oder bereits 70 Jahre alt war. Kinder im Mutterleib trugen obendrein ein erhöhtes Risiko für Fehlbildungen und verzögerte geistige Entwicklung davon. Genetische Schäden bei den Nachkommen der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki fanden sich bis heute nicht – ein Widerspruch zu Daten aus Tierversuchen.

Die meisten Todesopfer durch Spätschäden werden voraussichtlich erst in den nächsten Jahren zu beklagen sein. „ Die Daten der Gruppe, die in jungen Jahren bestrahlt wurde, kommen erst jetzt”, weiß John Cologne. Am Ende werden nach Hochrechnungen der RERF mehr als 1000 Menschen in der Life Span Study aufgrund der Strahlen an Krebs gestorben sein und 500 an anderen Krankheiten. Durch sie werde es noch manch neue Erkenntnis zur biologischen Wirkung der Strahlen im menschlichen Körper geben, sagt Cologne voraus. Es sei wichtig, die Daten von sämtlichen Überlebenden bis zu deren Lebensende zu sammeln.

Noch 2004 war die Fortführung des Projekts gefährdet. Die US-Regierung plante Einschnitte bei ihrem etwa 50-prozentigen Anteil am 40-Millionen-US-Dollar-Budget der RERF. Doch der Protest aus der internationalen Forschergemeinde wirkte: „Die USA haben ihren Anteil sogar aufgestockt”, sagt Cologne.

Wie die Daten der Life Span Study im Einzelfall für eine Risikoabschätzung im Strahlenschutz zu werten sind, darüber gibt es allerdings erhebliche Diskussionen unter den Wissenschaftlern. Und ein grundlegender ethischer Makel der Studie ist durch keinerlei Disput aus der Welt zu schaffen: der harte Vorwurf, es handele sich um „Forschung der Sieger an Besiegten”.

Eigentlich ist es ein Wunder, meint der Münchener Strahlenbiologe Werner Rühm, dass die Zusammenarbeit überhaupt so lange funktioniert hat. Erst 2003 gab es Krach: Die US-Arbeitsgruppe unter Beteiligung von Rühm und weiteren deutschen Forschern, die die Nickel-Isotope gemessen hatte, kam unter Beschuss. Sie hatte japanische Wissenschaftler, die die untersuchten Proben lieferten, nicht mit in die Autorenzeile der Veröffentlichung im Fachblatt „Nature” genommen. Die Japaner protestierten und wurden nachträglich mit als Autoren genannt.

„Die Ressentiments auf beiden Seiten werden bleiben”, befürchtet Rühm. „Die Life Span Study wird die Last der Geschichte niemals los.” ■

BERNHARD EPPING ist Biologe und freier Wissenschaftsjournalist in Tübingen. Er hat sich von der bdw-Redaktion fürs nächste Mal ein weniger düsteres Thema gewünscht.

Bernhard Epping

COMMUNITY INTERNET

Homepage der amerikanisch-japanischen Radiation Effects Research Foundation:

www.rerf.or.jp/

Gute Übersicht vom Bundesumweltministerium über den Strahlenschutz:

www.bmu.de/strahlenschutz/information _zum_strahlenschutz/doc/2208.php

Zum jetzt anlaufenden Mammographie-Screening in Deutschland:

www.kooperationsgemeinschaft-mammographie.de/mammographie_screening/allgemeine_informationen.php

Ohne Titel

Die biologische Wirkung ionisierender Strahlung wird als Äquivalentdosis oder Organdosis in Sievert (Sv) beziehungsweise in Milli-Sievert (mSv), Tausendstel Sievert, angegeben. Im Durchschnitt kommt ein Bundesbürger pro Jahr auf eine „effektive Dosis” von 4 mSv. Etwa die Hälfte geht auf das Konto natürlicher Strahlenquellen wie des aus Gesteinsporen austretenden Gases Radon, die andere Hälfte auf „zivilisatorische Strahlenbelastung” wie medizinische Röntgenaufnahmen.

Für Strahlenschäden gibt es zwei unterschiedliche Messlatten. Die erste: hohe Strahlendosen. Etwa ab einer Ganzkörperdosis von mehr als 500 mSv versagen alle Reparaturmechanismen des Organismus. Nach den ersten Symptomen Blutarmut, Durchfall und Erbrechen folgen Hautschäden, Haarausfall und die Zerstörung von Organen – bis zum Tod. Bei Werten oberhalb von 5 Sv Ganzkörperbestrahlung stirbt die Hälfte der Betroffenen auf der Stelle, wenn rasche medizinische Hilfe ausbleibt.

Im Alltag und in der medizinischen Diagnostik spielt aber meist nur der „Niedrigdosisbereich” eine Rolle, mit Werten deutlich unterhalb von 100 mSv. Hier lassen sich nur mit komplexen Rech- nungen eventuelle Spätfolgen abschätzen. Im Niedrigdosisbereich kann der Körper Schäden oft selbst reparieren.

Ohne Titel

• Ende 2005 soll in Deutschland das große Mammographie-Screening für Frauen über 50 beginnen.

• Die zugrunde liegenden Nutzen-Risiko-Abschätzungen beruhen auch heute noch auf Studien an den japanischen Strahlenopfern.

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