Drei Jahrzehnte ist der chemieunfall demnächst her, dessen Schauplatz – das italienische Städtchen Seveso – zum Synonym für industriell verursachte Umweltrisiken werden sollte. Am 10. Juli 1976 trat aus der Fabrik ICMESA eine Wolke aus, die als weißer Staub auf die Ortschaft nieder rieselte und bei den Bewohnern Hautveränderungen, Übelkeit, neurologische Störungen und andere Vergiftungserscheinungen hervorrief. Der Substanz-Cocktail enthielt zwei Kilogramm der Substanz 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-para-Dioxin, kurz TCDD genannt. Das „ Seveso-Dioxin” – das gefährlichste aller Dioxine – rückte diese große Substanzgruppe in den Brennpunkt der kollektiven Angst, man werde von „der Industrie” allmählich vergiftet.
In der Folge stellte sich heraus, dass die Dioxine längst allgegenwärtig waren. Sie entstehen unter anderem bei Verbrennungsvorgängen, bei denen das chemische Element Chlor anwesend ist. Über die Luft gelangen sie in den Boden, von dort über die Pflanzen in die Tiere und darüber schließlich in den Menschen, wo sie sich im Fettgewebe und in der Muttermilch anreichern. Unter dem Druck der Öffentlichkeit bequemten sich Regierungen, Chemische Industrie und Kraftwerksbetreiber zu rigiden Maßnahmen, um die Dioxin-Emissionen zu reduzieren, kombiniert mit ständiger Überwachung der Werte.
Die Strategie hatte Erfolg. Die Konzentration in der Muttermilch, ein Indikator für die allgemeine Belastung, konnte in Deutschland von 1986 bis 1996 halbiert werden, wie bild der wissenschaft vor zehn Jahren berichtete (7/1996, „Der Deutsche Dioxin-Report”). 1986 waren es, nach der WHO-Messmethode gerechnet, 35 Picogramm (billionstel Gramm) Dioxin pro Gramm Muttermilchfett, 1996 dann 16 Picogramm und 2002 – neuere Zahlen sind nicht verfügbar – nur noch 9.
Entwarnung geben will Hermann Kruse, Umwelttoxikologe an der Universität Kiel, trotzdem nicht: Was der Bundesbürger heute in Fisch, Eiern, Milch und anderen Nahrungsmitteln an Dioxinen aufnimmt – durchschnittlich zwischen 0,7 und 1,5 Picogramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag –, sei zwar so wenig, dass keine akuten Schäden zu erwarten seien. Aber langfristige Effekte könnten nicht ausgeschlossen werden.
„Der Verdacht besteht, es könne zu Schäden am Herzmuskel kommen, auch zu Problemen mit dem Fettstoffwechsel und dem Immunsystem. Außerdem werden eine ganze Reihe Enzymsysteme durch die Dioxine beeinflusst”, sagt Kruse. Ähnlich sieht Marianne Rappolder die Lage: „Die Konzentration in Lebensmitteln ist immer noch zu hoch.” Die Dioxin-Expertin beim Umweltbundesamt hält auf die Dauer eine Beeinträchtigung der Schilddrüse für möglich, besonders bei gestillten Kindern.
Schon ein geringfügiges Wiederansteigen der Werte kann die Dioxin-Belastung in einen Bereich schieben, in dem im Tierversuch gesundheitsschädliche Effekte nachgewiesen sind. Sorgen bereiten beiden Experten vor allem die häufigen Überschreitungen der zulässigen Grenzwerte bei Tierfutter. „Dazu tragen entweder belastete Bodenpartikel bei, die an den Pflanzen haften, oder die Dioxine entstehen in defekten Trockenanlagen”, vermutet Rappolder. Hier müsse auf jeden Fall etwas getan werden. Auch Kruse fordert bessere Kontrollen.
Doch im Gegensatz zu 1976 wird es von Jahr zu Jahr schwerer, Öffentlichkeit und Politiker von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. Das wachsende Desinteresse spiegele sich auch darin wider, erklärt Kruse, dass die Dioxin-Luftbelastung nur noch vereinzelt routinemäßig und ansonsten lediglich auf besondere Veranlassung gemessen werde. Diesen Trend hält er für gefährlich: „Es ist nicht auszuschließen, dass neue Dioxinquellen übersehen werden und die Belastung künftig sogar wieder steigt.” Ilka Lehnen-Beyel■